Romane
Berührend und emotionsgeladen - die Lebensgeschichte der Naomi Marshall
Naomi Marshall kann auf ein langes, bewegtes Leben zurückblicken, während sie in ihrer Londoner Wohnung am Fenster sitzt und den vorbeieilenden Menschen nachsieht. Abwechslung in ihrem ereignislosen Alltag erfährt sie einzig bei den Besuchen ihrer Pfleger und von Essen auf Rädern, die um das Wohl der alten, einsamen Dame besorgt sind. Doch eines Tages ändert sich Naomis Leben, als die lebenslustige, junge Sally in die Nachbarswohnung einzieht und mit ihrem Elan selbst die Rentnerin ansteckt. Sie erzählt von ihrer Familie auf dem Land, von Freunden und von ihrem Job. Als sie die unzähligen Bücher in Naomis Wohnung entdeckt, beginnt Sally sich für die Vergangenheit ihrer Nachbarin zu interessieren. Doch bevor diese ihr ihre persönliche Geschichte in allen Details erzählen kann, zieht Sally wieder weg.
Eines hat ihre Bekanntschaft zu Sally in Naomis Innersten ausgelöst: Sie öffnet sich ihrer Vergangenheit und taucht in jene Zeit ein, als sie mit Ehemann Arthur in Afrika lebte und ihren anthropologischen Forschungen nachging. Damals hat sie die schönsten, aber auch schmerzlichsten Stunden ihres Lebens erfahren. Die Freundschaft mit der jungen Afrikanerin Leah eröffnete Naomi eine neue Sicht auf das Leben und zeigte ihr, dass Freud und Leid nah beieinander liegen. Das musste sie auch erfahren, als Arthur gewaltsam das Leben genommen wird und Naomi fortan als Witwe ihr Leben meistern muss. Sie kehrte ihrer wahren Heimat daraufhin zwar den Rücken, bleibt dem Land im Geiste und Herzen aber stets verbunden. Auch Leah, dessen Schicksal Naomi so berührt hat, kann sie nicht vergessen. Und so hofft sie und glaubt fest daran, dass sie sich eines Tages wiedersehen werden.
Charles Chadwick kam erst in betagtem Alter zur Schriftstellerei. 72-jährig debütierte der Brite mit seinem Erstlingswerk "Ein unauffälliger Mann" und sorgte damit weltweit für großes Aufsehen. Sein mittlerweile dritter Roman "Brief an Sally" muss sich keineswegs hinter seinen Vorgängern verstecken, denn, was Chadwick bei einem 930-Seiten-Epos gelingt, erlebt der Leser auch bei der Lektüre dieses 224-Seiten-"Büchleins": hochemotionale Momente, die zum Nach- und Überdenken anregen und dem Rezipienten ein Stück vom Sinn des Lebens offenbaren.
Dieser Roman ergreift einem bis ins tiefste Innere und lässt einen trotz seiner Schwere ein kleines Stückchen über dem Erdboden schweben - und doch schweift die Geschichte nie ins Sentimentale ab, sondern bleibt am Leben verhaftet. Chadwicks Roman "Brief an Sally" ist eines jener Werke, die mit einem ungeschönten Bild von der Wirklichkeit berühren und zugleich tiefe (Gefühls-)Schauer durch den Körper jagen.
Susann Fleischer
04.10.2010