Romane

Wahrscheinlich wird es nicht besser , vielleicht aber gut

Crosby, eine ruhige, kleine Küstenstadt in Maine. Hier lebt Olive Kitteridge, die gefürchtete Mathematiklehrerin und barsche Ehefrau und Mutter, die sich noch niemals in ihrem Leben für etwas entschuldigt hat. Mit ihrem rohen Sarkasmus und ihrer derben bis unhöflichen Art macht sie sich bei den Einwohnern des idyllisch gelegenen Städtchens, in dem jeder jeden kennt, nicht gerade beliebt. Für die Freuden der anderen, zum Beispiel sonntags nach dem Kirchgang Klatsch und Tratsch auszutauschen, hat sie nichts übrig. Das ganze Gegenteil von der schroffen Olive ist ihr Mann Henry. Er ist die Gutmütigkeit in Person und hält es tapfer mit seiner wirklich nicht leichten Frau aus. Als Apotheker nimmt er regen Anteil am sozialen Leben und ist bei allen Einwohnern Crosbys gern gesehen.

Nach vielen gemeinsamen Jahren hat sich die Ehe von Olive und Henry abgenutzt. Beide finden eine Zeit lang eine neue Liebe, wenn auch nur platonisch. Henry träumt von einem Neuanfang mit seiner Angestellten, der zurückhaltenden und unverdorbenen Denise, die Emanzipation für sich ablehnt. Olive dagegen liebt einen Lehrerkollegen, einen sechsfachen Familienvater, bis dieser bei einem Autounfall ums Leben kommt.

Als ihr einziger, schon nicht mehr ganz junge Sohn Christopher endlich heiratet, empfindet Olive gegen ihre neue Schwiegertochter eine Abneigung, die sogar so weit geht, dass sie ihr Sachen klaut, um die allzu souveräne Frau in Verwirrung und Selbstzweifel zu stürzen. Um den Launen seiner Mutter zu entfliehen, verschlägt es Christopher ans andere Ende der USA, für Olive ein schwerer Schicksalsschlag. Obendrein verbietet ihr Christopher zunächst jegliche Besuche und schafft es erst mit Hilfe einer Therapie, seine Mutter in sein neues Zuhause einzuladen.

Als Henry einen schweren Schlaganfall erleidet, infolge dessen er in einem Heim als Pflegefall dahinvegetiert, steht Olive plötzlich alleine da. Wie es so oft im Leben ist, bemerkt sie zu spät, was sie an ihrem Mann hatte. Das einzige, was für sie von nun an noch unerträglicher ist als die Einsamkeit, ist die Gesellschaft anderer Leute. Immer seltener nimmt sie am öffentlichen Leben teil und wenn, dann nur, um Menschen zu treffen, denen es noch schlechter geht als ihr selbst. Am Ende gelingt es Olive trotzdem mit Hilfe des Witwers Jack ihrer Hoffnungslosigkeit zu entkommen.

"Mit Blick aufs Meer" umfasst etwa zwanzig Jahre und ist im Stil voneinander unabhängigen Kurzgeschichten aufgebaut. Nur, dass immer wieder die gleichen Personen vorkommen, einige mehr, andere weniger. Und ohne eine einzige Ausnahme findet Olive eine kleine oder große Rolle in den unterschiedlichen Erzählungen. In "Hunger" wird sie Zeugin der geheimen Liebe zwischen ihrer Freundin Daisy und dem verheirateten Harmon, der nach dem Auszug seiner Söhne bemerkt, dass seine Frau nicht an ihm interessiert ist. In „Frau am Klavier“ ist sie an dem Tag mit Henry zu Gast in der Cocktail-Lounge, an dem sich die Barpianistin nach zweiundzwanzig Jahren in einer kurzen Pause von ihrem verheirateten Liebhaber trennt, mit dem "Gefühl, zu spät etwas Wichtiges begriffen zu haben". In "Flaschenschiff" erinnert sich die ehemalige Schülerin Julie an eine Lebensweisheit ihrer einstigen Lehrerin Olive Kitteridge, als sie beschließt, dem Leben in Crosby und ihrer verrückten Mutter zu entfliehen.

Während die jungen Leute mit ihrem unbeschwerte Glück und den vielen Chancen sorglos und verschwenderisch umgehen, bleibt den Älteren nicht viel. Zu den Glücklichen unter ihnen gehören diejenigen, die mit ihrem Ehepartner alt werden können, um von der großen Einsamkeit verschont zu bleiben. Wenn die eigenen Kinder wegziehen, so hofft man zumindest bald auf Enkelkinder, die oft zu Besuch kommen und neues Leben in Haus und Garten bringen. Aber auch diese Wünsche verpuffen oft unerhört.

In ihrem Roman, 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, schreibt Strout mit spürbarem Mitgefühl und liebevoller Ironie aus Sicht der alten Frauen über eine in die Jahre gekommene Generation: Über die veränderten Bedürfnisse im Alter, die plötzliche Nutzlosigkeit im Ruhestand, die Einsamkeit, die folgt, wenn der Partner stirbt und die Kinder weggezogen sind. Selbst die verlorenen Träume sind in Vergessenheit geraten. Zurück bleiben unterdrückte Schuldgefühle und leise Selbstvorwürfe, wenn das eigene Kind nicht so geraten ist, wie man es sich wünscht oder man den Partner nicht so geliebt hat, wie er es verdient hätte. Ein wirklich wunderbares Buch über die Liebe, das Älterwerden und die Erkenntnis, dass nichts von Bestand ist. 

Jennifer Mettenborg
13.09.2010

 
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Das Buch:

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth

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München: Luchterhand Literaturverlag 2010
352 S., € 19,95
ISBN: 978-3-630-87330-5

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