Romane

So nah und doch so fern

So wie Primzahlen etwas Besonderes in der unendlichen Reihe der natürlichen Zahlen sind, so sind Alice und Mattia etwas Besonderes in der Masse der Menschen. "Eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen", so erklärt das Mathegenie Mattia nicht nur seine Vorliebe für Primzahlen, ihm gelingt damit auch eine sehr passende Charakterisierung seines eigenen Lebens und dessen seiner Freundin Alice.

Alice und Mattia werden in ihrer Kindheit durch die Geschehnisse eines einzigen Tages zu "Primzahlen": Alice erleidet beim Skifahren - zu dem sie ihr verhasster Vater immer gezwungen hat - einen folgenschweren Unfall, den sie zwar überlebt, der sie aber mit einem steifen Bein und seelische Wunden zurücklässt. Mattias Zwillingsschwester Michela ist geistig zurückgeblieben, und weil er sich für ihr Verhalten schämt, lässt er sie auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier in einem Park allein zurück. Als er sie später abholen will, ist sie verschwunden. Sowohl Mattia als auch Alice haben ihre unterschiedlichen Kindheitstraumata auf ähnliche Weise geprägt: Sie werden zu Außenseitern.

Einige Jahre nach diesen Ereignissen begegnen sich Alice und Mattia zum ersten Mal in der gemeinsamen Schule. Sie erkennen gegenseitig ihre Einsamkeit und fühlen sich auf eine Weise voneinander angezogen, die beiden bisher unbekannt war. Sie scheinen wie füreinander gemacht, denn sie haben in dem anderen eine Person gefunden, mit der sie ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Schuldgefühle teilen können. Doch die Jahre vergehen, und es gelingt ihnen nicht, den letzten Schritt zu einem Leben als glückliches Paar zu gehen. 

Mattia geht nach seinem Mathematik-Studium ins Ausland und Alice versucht, sich eine Karriere als Fotografin aufzubauen. Auch wenn sie sich äußerlich voneinander entfernen, scheint die starke Verbindung, die sie beide empfinden, nicht abzubrechen. Dennoch wird Mattias Vorahnung, dass er und Alice nicht nur Primzahlen, sondern Primzahlenzwillinge sind, immer offensichtlicher: "[ein Paar] von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren."

Dem 26-jährigen Autor ist mit seinem Romandebüt in Italien ein sensationeller Erfolg gelungen - zu recht! Für "Die Einsamkeit der Primzahlen" wurde der Physiker mit dem Premio Strega, dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, ausgezeichnet und kann sich nun über die Übersetzungen seines Romans in über 30 Sprachen freuen.

Giordanos Roman besticht durch eine ungewöhnliche Poesie; er ist poetisch und gefühlvoll ohne den rosaroten Zuckerguss, der gewöhnlich über Liebesgeschichten liegt. Sicherlich ist dies teilweise auch Giordanos naturwissenschaftlichem Hintergrund zuzuschreiben, da er ohne eine wie auch immer gefärbte Brille schreibt und sich und seine Leser damit von jeglichen Illusionen befreit. Romandebüts wie das des jungen Italieners wünscht man sich öfters - so erfrischend und ein Gefühl auslösend, das einen noch lange nach Beenden des Buches nicht verlässt. 

Sabine Mahnel
24.08.2009

 
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Das Buch:

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler

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München: Karl Blessing Verlag 2009
363 S., € 19,95
ISBN: 978-3-89667-397-8

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