Romane

Walkers Debüt: eine bitterböse, mit schwarzem Humor getränkte Abrechnung mit der US-amerikanischen Gesellschaft - echt heftig, nichts für zarte Gemüter

Cleveland, 2003. Ein junger Mann beginnt sein Studium am College, wo er Emily kennenlernt. Sie teilen eine Vorliebe für Edward Albee und Ectasy. Und so kommt es, wie es kommen muss: Die beiden verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Es sind mehrere aufregende Wochen, zwischen wilden Knutschereien und mehr. Bis das Glück ein Ende zu finden droht. Emily beschließt, zurück zu ihrer Familie nach Elba/ New York zu ziehen, während er die Uni schmeißt und der Armee beitritt. Um ihre Beziehung zu untermauern, heiraten sie, bevor er in den Irak geschickt wird. Als Armeesanitäter trifft ihn das Grauen des Krieges mit voller Wucht und völlig unvorbereitet. Seine Kameraden rauchen Weed, schnüffeln Klebstoff, nehmen Schmerzmittel, schauen Pornos. Er hingegen hält sich verzweifelt an Emilys Liebe fest.

Ein Jahr hat sich der namenlose Protagonist für den Armeedienst verpflichtet. Es ist wohl das härteste seines Lebens. Er sieht andere sterben, gerät immer öfter hart an seine Grenzen, versucht aber, sich das Gute in seinem Inneren zu bewahren. Emily wiederzusehen ist alles, was er will. Doch endlich zurück in den Staaten bekommt er die Kriegsbilder nicht mehr aus dem Kopf. Der Einsatz an der "Front" hat schwere posttraumatische Belastungsstörungen zufolge. Er sieht nur noch einen Ausweg: Der Kriegsheld verfällt den Drogen, während die Opioid-Epidemie Amerika überschwemmt. Bald ist er auf Heroin, und Emily auch. Alle Versuche (zum Beispiel die Anschaffung eines Hundes), ein geregeltes Leben zu führen, scheitern. Um seine Sucht zu finanzieren, raubt er Banken aus. Das geht nicht lange gut ...

Kompromisslos, tabulos, erbarmungslos - einen Roman wie "Cherry" hat es seit T.C. Boyles "Grün ist die Hoffnung" nicht mehr gegeben. Autor Nico Walker schont den Leser zu keinem Satz. Er lässt ihn regelrecht schockiert zurück, auch und vor allem weil sein Schreibkönnen so grandios ist. Sein Erstling bedeutet aber nicht nur ein Leseerlebnis der einsamsten Spitzenklasse, sondern warnt zugleich vor Drogen und deren Missbrauch. Walker will aufrütteln. Und das macht er ohne Rücksicht auf Verluste. Solch einen Genuss vergisst man sein Leben lang nicht. Genialere Unterhaltung findet man nirgendwo sonst. Einfach nur der absolute Wahnsinn zwischen zwei Buchdeckeln, definitiv der abgedrehteste, geilste (Lese-)Schuss dieses Jahres! Aber Vorsicht: Nach der letzten Seite möchte man sich einen neuen setzen.

Nico Walker gehört zu den brillantesten Ausnahmetalenten unter den US-Schriftstellern. Er schreibt Literatur der spektakulärsten Sorte sowie mit der berauschenden Wirkung von Drogen. Kaum eines seiner Bücher aufgeschlagen, und man fühlt sich ganz high. "Cherry" macht noch süchtiger als Heroin. Was man hier in die Hände kriegt, ist die Sensation eines Debüts, vielleicht sogar der nächste große amerikanische Roman. Hier wird Erzählkunst auf ein neues Level gehoben. Das rockt, und zwar bis zum letzten Satz!

Susann Fleischer 
12.08.2019

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Nico Walker: Cherry. Aus dem Amerikanischen von Daniel Müller

CMS_IMGTITLE[1]

München: Heyne Verlag 2019 384 S., € 22,00 ISBN: 978-3-453-27197-5

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.