Romane

Eine traurige deutsche Geschichte

Die Bruhns betreiben Anfang der Sechziger Jahre einen erfolgreichen Familienbetrieb im Frankfurter Stadtteil Bornheim. Auf der Berger Straße ist ihr "Deutsches Haus" eine Institution, gutbürgerliche Küche zubereitet vom Chef, serviert von der Chefin. Die drei Kinder der Bruhns helfen, so gut es geht, im Gasthaus aus. Alle drei befinden sich jedoch in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen. Während die älteste Tochter Annegret als Kinderkrankenschwester arbeitet, aber ihr Dasein weitgehend alleinstehend fristet, steht ihre jüngere Schwester Eva kurz davor, die Partie ihres Lebens zu machen: Jürgen, Sohn des Katalogkönigs Schoormann, macht ihr den Hof; der Schritt über die Schwelle der Ehe scheint für Eva nur eine Frage der Zeit. Stefan, der Nachzügler der Bruhns, ist hingegen noch der verspielte kleine Junge und die personifizierte Unschuld einer schuldbeladenen Familie.

Kurz vor Weihnachten 1963 erhält Eva, die als Polnisch-Dolmetscherin arbeitet, einen dringenden Auftrag. Sie soll in einem anstehenden Gerichtsprozess die Aussagen einiger polnischer Zeugen übersetzen. Erst allmählich wird ihr klar, dass sie ein Bestandteil der zu dieser Zeit sehr kontrovers diskutierten Frankfurter Auschwitz-Prozesse ist. Das ganze Ausmaß der Tragödie, die sich rund zwei Jahrzehnte zuvor in den dortigen Lagern abspielte, wird Eva sukzessive bewusst. Verstört nimmt sie die kompromisslos ablehnende Haltung ihrer Eltern zu diesen Prozessen wahr. Als schließlich der Hauptangeklagte, dem Eva jeden Tag im Gerichtssaal gegenübersitzt, zusammen mit seiner Frau im "Deutschen Haus" auftaucht und dort vor ihren Eltern ausspuckt, ist Eva klar, dass ein ganz schweres Geheimnis auf ihrer Familie lasten muss.

"Deutsches Haus" lautet der Titel des Debütromans von Annette Hess, die sich in der Vergangenheit bereits einen Namen als erfolgreiche Drehbuchautorin gemacht hat. Die ARD-Serie "Weissensee" und die ZDF-Dreiteiler "Ku´damm 56" und "Ku´damm 59", die auf den Drehbüchern von Annette Hees basieren, gehören zu den erfolgreichsten Serien der letzten Jahre im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Thematisch bewegt sich Hess mit ihrem ersten Roman auf einem ähnlich interessanten zeitgeschichtlichen Terrain. In der ersten Hälfte der Sechziger Jahre gehörte die Aufarbeitung der deutschen Kriegsschuld nämlich noch nicht zu den bevorzugten Beschäftigungen der deutschen Gesellschaft. Schließlich waren viele Menschen, die mitten im Leben standen, sehr unvorteilhaft in die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs verwickelt.

Die Autorin nutzt die geschichtsträchtigen Prozesse in Frankfurt, in denen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit seiner Hartnäckigkeit für die bundesweite Auseinandersetzung mit den Gräueltaten sorgte, als Hintergrundkulisse und Treiber für die Familiengeschichte der Bruhns. Peu à peu wird die scheinbar unbescholtene Fassade der Wirtsleute abgetragen. "Deutsches Haus" arbeitet sehr präzise das Bild des unschuldigen Deutschen heraus, der laut eigener Aussage doch nur passiv mitgeschwommen sei und nicht anders habe agieren können. Das Verdienst Bauers war es seinerzeit, diesen Irrglauben ad absurdum zu führen und der Bagatellisierung der Schuld vehement entgegenzutreten. Bauer räumte mit der Mär des Befehlsnotstandes auf und machte der deutschen Gesellschaft klar, dass diese Menschen ein nicht zu unterschätzender Teil der gesamten Vernichtungsmaschinerie waren.

Man merkt dem vorliegenden Buch an, dass hier eine sehr versierte Drehbuchautorin die Feder geführt hat. Der Schreibstil von Annette Hess sorgt dafür, dass manches Mal die Szenen schlagartig wechseln, manchmal aber auch das "Bühnenbild" erstmal sehr ausführlich beschrieben wird, bevor die eigentliche Handlung einsetzt. Man darf Hess durchaus überschwänglich dafür loben, dass sie in ihrem Erstling mit sehr viel Feingefühl eine deutsche Geschichte erzählt hat, die durchsetzt ist mit vielen emotionalen Wellen. Die Protagonisten werden im Verlaufe der Handlung extremen Belastungen ausgesetzt und sind am Ende nicht mehr dieselben wie zu Beginn des Buches. Wie so viele Werke, die sich intelligent mit der Aufarbeitung des schlimmsten Kapitels der deutschen Geschichte beschäftigen, ist auch dieses Buch unglaublich wertvoll und im Kontext der besorgniserregenden bundesrepublikanischen Rückentwicklung aktueller denn je.

Christoph Mahnel
26.11.2018

 
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Das Buch:

Annette Hess: Deutsches Haus

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Berlin: Ullstein Verlag 2018
368 S., € 20,00
ISBN: 978-3-550-05024-4

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