Romane
Eine Geschichte , erfüllt von Lebenslust und Kraft , beseelt von der Euphorie über das Sein
Brooklyn, 1912: Die elfjährige Francie sitzt am liebsten im Blätterdach des großen Baums, lutscht Pfefferminzbonbons und verschlingt ein Buch nach dem anderen. Sie ist eine leidenschaftliche Leserin, eine Süßigkeiten-Connaisseuse, eine genaue Beobachterin der menschlichen Natur - und sie hat einen Traum: Sie möchte Schriftstellerin werden. Ein Traum, der kaum zu erfüllen ist. In Williamsburg brummen die Mietshäuser vor all den Zugewanderten, jeden Tag wird von dem hart verdienten Geld das Essen zusammengeklaubt, Kinder strömen samstags durch die Straßen, um für ihren gesammelten Trödel einige Pennies für Süßes zu ergattern. Auch Francie schlägt sich mit ihrer Familie einigermaßen durchs Leben, oftmals mehr schlecht als recht. Und trotzdem will sie nichts ändern.
Wenn Francie auf dem Baum oder auf der Feuertreppe in der Sonne sitzt und sich mit allen Sinnen in ihren Geschichten verliert, sogar die Welt um sich herum vergisst, kann sie sich keinen schöneren Ort vorstellen. Dabei kämpft die Familie mit zahlreichen Problemen: Sein Alkoholismus hat es Francies Vater schwer gemacht, einen festen Job zu halten. Er sieht sich selbst als eine Enttäuschung. Francie hingegen bewundert ihn, weil er talentiert, emotional und sentimental ist wie sie. Mutter Katie hat wenig Zeit für Sentimentalität, da sie die Ernährerin der Familie ist, die Phantasien und Träume zum Überleben aufgegeben hat. Und wenn Francie auch gegen so manche Widrigkeit anschreiben muss, trägt sie doch eines in sich: dass es sich immer lohnt, nach purem Leben zu streben.
Berührend-schönstes Gefühlskino wie aus der Hollywood-Schmiede - mehr Emotionen als in "Ein Baum wächst in Brooklyn" findet man nirgendwo sonst. Kaum aufgeschlagen, bleibt garantiert kein Auge trocken. Betty Smith gelingt eine Geschichte zum Niederknien gut. Ab der ersten Seite, sogar ab dem ersten Satz verliebt man sich Hals über Kopf in die Geschichte und in Protagonistin Francie. Eine zartere Leseversuchung gibt es selten im Leben. Die US-amerikanische Autorin bringt Leserherzen wild zum Hüpfen hoch und höher, während es einem zugleich zu brechen droht. Was ihrer Feder entstammt, ist das Wunder von einem Leseerlebnis. Solch unbändiger Fabulierlust kann partout niemand widerstehen. Smith beherrscht das Schreibhandwerk so gut wie nur die wenigsten ihres Fachs.
Die Romane von Betty Smith zeugen von ganz hoher Erzählkunst. "Ein Baum wächst in Brooklyn" ist ein Juwel der Literatur. Selten hat man sich nach der Lektüre solch eines Meisterwerks schwindeliger gefühlt vor lauter Leseglück und noch mehr -begeisterung. Unterhaltung kann so schön sein, so unfassbar, sogar überwältigend schön!
Susann Fleischer
18.12.2017