Belletristik:

Sachbuch:

Magazin:

Romane

Die sexuelle Menschwerdung des Libero Marsell

Libero Marsell ist noch ein heranwachsender Junge, als er eine Beobachtung macht, die sein Leben verändert: In flagranti erwischt er seine Mutter mit dem besten Freund der Familie. Die Ehe der Eltern geht in die Brüche, und Libero entdeckt langsam, aber sicher seine eigene Sexualität. Er entwickelt eine erotische Phantasie für Marie, die Ex-Freundin des besagten Ex-Familienfreundes. Ein Leben lang wird ihn diese niemals begangene Liebe begleiten. Bei seinen Streifzügen durch Paris macht Libero erste amouröse Erfahrungen, durchlebt Nächte in Bars und Cafés und lernt dabei sogar Jean-Paul Sartre kennen. Irgendwann regt es sich signifikant in seiner Hose, als er Lunette, die hübsche ältere Schwester seines besten Freundes, mit ganz anderen Augen als bisher wahrnimmt.

Libero ist ein Wandler zwischen Italien und Frankreich, zwischen Paris und Mailand, und reift nicht nur durch die Geschlechtsakte mit Lunette zum Mann heran. So explosiv und aufregend sich sein Sexualleben entwickelt, ist es doch durchsetzt mit schmerzhaften Tiefschlägen, von denen sich Libero immer wieder erholt, meist mit den guten Ratschlägen und Buchtipps seiner Über-Freundin Marie. Irgendwann kommt es dann für Libero zum Showdown seines Lebens, als ihm Anna begegnet, die Anvertraute von Mario, einem seiner beiden besten Mailänder Freunde. Ist es tatsächlich die große und eine Liebe seines Lebens? Oder wieder nur ein vorübergehendes Aufflackern seiner Libido für eine hübsche Frau? Libero weiß, dass er eine Freundschaft fürs Leben zerstören wird, wenn er sich für seine Gefühle entscheiden sollte.

"Obszönes Verhalten an privaten Orten" lautet der etwas sperrige, aber doch recht einprägsame deutsche Titel des vor zwei Jahren im italienischen Original erschienenen Buches von Marco Missiroli. Der Autor hat mit seinen Büchern in der Heimat schon einige Literaturpreise einheimsen können. Auf dem deutschen Markt ist er bisher noch recht unerkannt unterwegs gewesen, lediglich "Das Lächeln des Elefanten" hatte bis dato den Weg zu einem deutschen Übersetzer gefunden. Mit dem vorliegenden Buch wird der 36-jährige Italiener jedoch nachhaltige Fußspuren hierzulande hinterlassen. "Obszönes Verhalten an privaten Orten" ist ein Coming-of-Age-Roman der besonderen, weil erotisch-prickelnden Art. Dem Autor gelingt mit seinem Buch ein kleines Stück Literatur, auch weil er sich dabei trotz zahlreicher Bettszenen nicht auf das Niveau schlüpfriger Groschenromane begibt, sondern selbiges hochhält.

Missiroli hat die sexuelle Lebensgeschichte seines Protagonisten strukturell in dessen Entwicklungsstadien unterteilt. "Kindheit", "Pubertät", "Jugend", "Reife" und so weiter und so fort lauten dementsprechend die Kapitelüberschriften des vorliegenden Buchs. Die literarische Note wird befeuert durch die zahlreichen im Buch erwähnten Klassiker, die sich Marie, Libero und Lunette gegenseitig empfehlen und zu denen sie sich auch in Bezug auf ihre privaten Lebensgeschichten immer wieder austauschen. Dem Autor gelingt es, bei den vielfältigen Liebesszenen intensiv, dabei aber immer niveauvoll und ansprechend zu bleiben. Insbesondere wird der Leser wiederholt feststellen können, wie nachvollziehbar die Emotionen der Liebenden rüberkommen, wodurch der Leser sich emotional im Buch widerfindet.

"Obszönes Verhalten an privaten Orten" ist ein Buch mit ganz vielen prickelnden und todtraurigen Szenen und lotet damit die ganze Gefühlsskala eines Liebeslebens aus. Damit beweist Marco Missiroli, dass er ein echter Kenner menschlicher Emotionen ist, denn ohne diese Expertise wird kein Schriftsteller in der Lage sein, einen solch gefühlsgeladenen Roman zu schreiben. In der Tat ist das vorliegende Buch etwas, für das man sich trotz einer übersichtlichen Seitenanzahl ein wenig Zeit nehmen sollte, denn sonst wird man die Sprache des Autors nicht entsprechend würdigen und genießen können. Die Lebens- und Liebesgeschichte des Libero Marsell überzeugt definitiv auf der ganzen Linie und macht Appetit auf mehr aus der Feder von Marco Missiroli.

Christoph Mahnel
18.09.2017

Diese Rezension bookmarken:

Social Bookmarking