Romane
Die tollkühnen Männer auf ihren brüchigen Velos
Vor ziemlich genau 89 Jahren startete am 17. Juni 1928 zum bereits zweiundzwanzigsten Male die große Schleife durch Frankreich, die "Tour de France". Im Jahre 1928 waren die Fahrräder noch Fahrräder und keine technischen Hochgeschwindigkeitsmaschinen wie heutzutage. Die Männer, die an den Start dieses Unterfangens gingen, mussten auch noch echte Männer sein, denn üble Stürze oder körperliche Zusammenbrüche waren damals an der Tagesordnung. Besagte Tour im Jahre 1928 wusste mit der erstmaligen Teilnahme eines australischen Teams ein kontinentales Novum zu verzeichnen. Der Star des Stalls "Ravat-Wonder-Dunlop" war Hubert Opperman, der am Ende mit einem Rückstand von über achteinhalb Stunden auf den Sieger immerhin den 18. Rang im Gesamtklassement einnehmen konnte - im Angesicht von 162 Startern und 41 heldenhaften Finishern ein sehr beachtenswertes Ergebnis.
Der neuseeländische Schriftsteller David Coventry hat die Hintergrundkulisse dieser 22. Tour de France für sein Romandebüt verwendet. "Die unsichtbare Meile" lautet der Titel des kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Romans, in dem der Autor einen namenlosen Ich-Erzähler aus Neuseeland auf die Reise von Paris nach Paris schickt. Diese fiktive Person ist Teil des historischen Teams von "Ravat-Wonder-Dunlop" zusammen mit den in den Archiven verbürgten Velozipedisten Opperman, Watson, Osborne und Bainbridge, von denen immerhin 75 Prozent das Ziel nach 22 Etappen und 5377 Kilometern in der französischen Hauptstadt erreichten. Von einem weiteren Athleten dieses Teams findet sich in den Annalen der Tour jedoch kein Fußabdruck.
Coventry ist in seiner Heimat seit dem Erscheinen des vorliegenden Romans im Jahre 2015 ein gefeierter Star und fand sich in den dortigen Bestsellerlisten über Wochen und Monate hinweg als Spitzenreiter bestätigt. Sicherlich genügt sein Schreibstil vollends literarischen Ansprüchen, kommt seine Sprache doch ziemlich verschwurbelt und verworren daher. Dies ist wahrscheinlich auch dem beständigen Zustand seines Hauptdarstellers geschuldet, der die Last der extremen Anstrengungen nur mit einer ganzen Palette an bewusstseinserweiternden Mitteln schultern kann. Wer die Austragung der Tour de France in der Moderne schon als verrückt empfindet, dem sei gesagt, dass in den letzten Jahren die Gesamt-Kilometerzahl der Rundfahrt ca. 2000 Kilometer weniger betrug als damals. Da die Etappenzahl annähernd gleich war, resultierten daraus einige fast 400 Kilometer lange Abschnitte, die dann mitten in der Nacht gestartet werden mussten.
Was in "Die unsichtbare Meile" deutlich zutage tritt, ist der beständige Wille, sich gegen das Aufgeben aufzulehnen, sei es auch mit den dafür notwendigen Mittelchen. Der Namenlose tut sich hierbei ganz besonders hervor und genießt seinen Rausch am Feierabend zumeist in den Händen oder im Schoß von Alice. Währenddessen liefern sich belgische Radfahrer gerne auch noch einmal einen handfesten Kampf unter Männern. Präsent ist im Jahre 1928 vor allem der noch nicht einmal ein vollständiges Jahrzehnt zurückliegende Erste Weltkrieg. Coventrys Hauptdarsteller kämpft diesbezüglich mit seinen Dämonen, schließlich war sein Bruder in die kriegerischen Aktivitäten in Europa direkt involviert. Die geliebte Schwester hingegen weilt zu seinem Start bei der Tour durch Frankreich nicht mehr unter den ihren.
Der innere Kampf des neuseeländischen Radrennfahrers durchzieht das gesamte Buch deutlich mehr als es eine semi-historische Nacherzählung der Tour des Jahres 1928 ist. Die Überwindung des inneren Schweinehundes ist die eine Seite der Medaille, die andere ist die Bewältigung der familiären Vergangenheit. Dabei gerät der Ich-Erzähler mehrfach derart ins Schwanken, dass man als Leser Angst davor hat, dass er die Tour aufgeben wird bzw. sein Erzähler sprachlich so sehr abdreht, dass man dessen Ausführungen nicht mehr folgen kann. "Die unsichtbare Meile" lässt sich zweifelsohne als Kunstwerk bezeichnen, als Gemälde einer Zeit und deren Gesellschaft. Doch leider überzieht der Autor in seinem Schreibstil des Öfteren so sehr, dass der Lesefluss und der Wille, wie ein Fahrer bei der Tour de France unbedingt dem Zielstrich entgegenstreben zu wollen, erheblich darunter leiden. Es bewahrheitet sich wieder einmal, dass in den Feuilletons gehypte Schriftsteller nicht immer die optimale Empfehlung für den Fahrer eines Dreigangrads darstellen.
Christoph Mahnel
26.06.2017