Krimis & Thriller

Kalt , kälter , Kautokeino

Der Winter stellt im Norden Lapplands eine gewaltige Herausforderung für die Bewohner dar: Nicht nur, dass das Thermometer dort dauerhaft auf zweistelligen Minusgraden verweilt, sondern auch die Tatsache, dass es beispielsweise in Kautokeino, einer kleinen Gemeinde der Provinz Finnmark im äußersten Norden Norwegens, Winter für Winter 40 Tage lang durchgängig Nacht ist. Erst am 11. Januar eines jeden Jahres findet diese Leidenszeit ein Ende, wenn sich dann erstmals wieder die Sonne für 27 Minuten blicken lässt. Anschließend vollführt die Sonne allerdings beinahe Quantensprünge, wenn sie sich Tag für Tag ihr verlorenes Terrain zurückerobert.

Diese "40 Tage Nacht" spielen eine zentrale Rolle im vorliegenden Roman des französischen Schriftstellers Olivier Truc. In besagtem Kautokeino wird die Beschaulichkeit durch zwei aufsehenerregende Straftaten empfindlich gestört. Im ortsansässigen Museum wird eine samische Trommel, ein fundamentales Kulturgut der in Lappland beheimateten und als Samen, aber nicht als Lappen bezeichneten Volksgruppe, gestohlen. Kurz danach wird ein Rentierzüchter in seinem Gumpi brutal ermordet aufgefunden. Zwar gibt es unter den Rentierzüchtern gerade in der Winterzeit immer wieder einmal Streitigkeiten, auch handfester Natur, doch Morde kennt man in Kautokeino eigentlich nur vom Hörensagen. Die heimische Rentierpolizei wird auf eine harte Probe gestellt, die ihre Fähigkeiten scheinbar bei weitem übersteigt.

Klemet Nango und Nina Nansen bilden das ungleiche Paar bei der Rentierpolizei, das im Mittelpunkt des vorliegenden Romans steht. Klemet, selbst dem Stamm der Samen angehörig, hatte einst in Stockholm bei den Untersuchungen zum Attentat an Olof Palme mitgewirkt, doch hat er sich mittlerweile mit der Rückkehr in die Heimat und der vergleichsweise geruhsamen Arbeit beim Beaufsichtigen der Rentierzüchter und ihrer Herden arrangiert. Nina dagegen stammt aus Südschweden und hat gerade ihre Ausbildung abgeschlossen, bevor ihr eine Stelle in der nördlichsten und kältesten Gegend Skandinaviens zugeteilt worden war. Doch werfen sowohl der desillusionierte Sami als auch die unerfahrene Novizin wider Erwarten viel Fingerspitzengefühl und  Kombinationsgabe mit in die Waagschale und kommen der Lösung deutlich näher als die örtliche Polizei, die aufgrund der bevorstehenden UN-Konferenz in der Gegend gerne eine schnelle Aufklärung wünscht und die Taten als Streitigkeiten unter verfeindeten Rentierzüchtern verbuchen möchte.

"40 Tage Nacht" ist ein über die Maßen ungewöhnlicher Roman. Ein Franzose schreibt über die nördlichsten Regionen Norwegens, Finnlands und Schweden, doziert über Leben und Gewohnheiten sowie Geschichte und Kultur der Samen, als sei er selbst in einem Gumpi mit Rentiermilch und Joik-Gesängen im Hintergrund aufgewachsen. Doch erklärt sich diese ungewöhnlich Kombination rasch damit, dass Truc seit über zwanzig Jahren als Skandinavien-Korrespondent vor Ort zugegen ist. Wer einen vergleichbaren Roman zum Thema sucht, wird auf dem deutschsprachigen Markt kaum fündig werden, denn soviel Wissenswertes über das indigene Volk am nördlichen Polarkreis hat sicherlich noch nie jemand in einen Kriminalroman um Mord und Diebstahl gepackt.

Der Leser verzeiht dem Autor gerne den Umstand, dass der Roman sprachlich keine großartigen Meriten verdienen möchte. Denn selten war man am Ende eines Krimis so viel schlauer als zu Beginn. Eine hochoffizielle Rentierpolizei, die Streitigkeiten unter den Züchtern regelt, gibt es tatsächlich. Dabei genießen die Rentierzüchter selbst heute im 21. Jahrhundert noch allerhöchsten Status in der gesellschaftlichen Hierarchie der Samen. Aber auch im unterkühlten und scheinbar vernunftgeprägten Skandinavien gibt es radikale Bewegungen, die das eigene Urvolk zurückdrängen möchten und dafür merkwürdigste Parolen zum Besten geben. Dafür verläuft allerdings die länderübergreifende Zusammenarbeit auf dem samischen Territorium fließend. Und scheinbar ganz nebenbei wickelt Olivier Truc noch einen hochkomplexen Fall auf den knapp 500 Seiten des Buches ab.

"40 Tage Nacht" ist die perfekte Winterlektüre, die einen hierzulande milde darüber lächeln lässt, wenn draußen die Autoscheiben während der Nacht zufrieren oder wieder einmal zehn Zentimeter Neuschnee vor dem eigenen Haus zu räumen sind. Die Bedingungen, die die Menschen in Kautokeino vorfinden, würden aus hiesiger Sicht garantiert als unmenschlich bezeichnet werden. Der Autor vermittelt im vorliegenden Buch eine greifbare Atmosphäre voller Dunkelheit und klirrender Kälte, in denen die wärmenden Momente am Feuer im Gumpi einen willkommenen Kontrast bilden. Wer Bücher liebt, die in der Kategorie "Für Freunde und Anhänger von" keinen Eintrag stehen haben, und eine gewisse Resistenz gegen Kälte und Dunkelheit mitbringt, für den ist "40 Tage Nacht" eine unbedingte Leseempfehlung. Außerdem ersetzt es zahlreiche TV-Dokumentationen über das Leben der Samen und die Geschichte Lapplands. Trucs Debütroman ist ein höchst unterhaltsamer und vorzüglicher "Alles in einem"-Krimi.

Christoph Mahnel
23.02.2015

 
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Das Buch:

Olivier Truc: 40 Tage Nacht

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München: Droemer Knaur 2015
496 S., € 19,99
ISBN 978-3-426-19987-9

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