Krimis & Thriller

Mittendrin in "Operation Chastise"

Im Frühjahr 1943 ist Eric Knowlden in London der deutschen Agentin "Nachtauge" ganz dicht auf den Fersen. Der britische Geheimdienst hat die begründete Befürchtung, dass Nachtauge vor der Enttarnung einer kriegsentscheidenden Operation der Engländer steht. Knowlden setzt Leib und Leben aufs Spiel, um sie dingfest zu machen. Zur gleichen Zeit arbeitet in Neheim im Sauerland der ehemalige Lehrer Georg Hartmann als Lagerleiter für Zwangsarbeiterinnen am Fuße der Möhnetalsperre. Er versucht den aus ihrer Heimat ins Deutsche Reich verfrachteten Frauen ein möglichst erträgliches Leben zu ermöglichen. Außerdem hat er sich in die junge Ukrainerin Nadjeschka, die gerade in seinem Lager eingetroffen ist, verliebt.

Titus Müller, Jahrgang 1977, ist der lebende Beweis dafür, dass man gleichsam fesselnde wie fundierte historische Romane schon in jungen Jahren verfassen kann und dafür nicht erst mit Altersweisheit gesegnet sein muss. Bereits mit 20 Jahren gründete er eine Literaturzeitschrift und mit 24 schrieb er seinen ersten Roman, dem bis zum jetzigen Zeitpunkt neun weitere folgten. Doch wartet er nicht ab, um erst einmal den Erfolg von "Nachtauge" auszukosten, sondern widmet sich sofort seinem nächsten Projekt. In diesem aktuell laufenden lässt er den interessierten Leser an der Entstehung seines neuesten Buches teilhaben und bietet interessante Einblicke in das Schaffen eines Schriftstellers.

In "Nachtauge" konzentriert sich die gesamte Handlung auf die beiden Schauplätze in England sowie rund um die Möhnetalsperre. Dort werden in der ersten Hälfte des Buchs die liebenswerten Charaktere von Georg Hartmann und Nadjeschka entwickelt. Gleichzeitig zeichnet Müller ein intensives Bild von den damals im Deutschen Reich herrschenden Verhältnissen, von der Situation derjenigen, die nicht an der Front kämpften und dort ihr Leben lassen mussten. Georg hängt am Haken seines Schwagers, eines Gestapomannes, der ihm den sicheren Job an der Heimatfront vermittelt hat. Doch will sich Georg nicht damit zufrieden geben, dass er fernab der Kriegshandlungen sein Leben führen kann. Stattdessen versucht er beständig, ein Maximum an Menschlichkeit in diesen menschenverachtenden Tagen zu erwirken.

In England bereitet man unter höchster Geheimhaltungsstufe eine vermeintlich kriegsentscheidende Operation vor: "Operation Chastise". Dazu üben die besten Piloten des Landes waghalsige Manöver und riskieren dabei weit entfernt von Kampfhandlungen tagtäglich ihr Leben. Doch wozu dienen die extremen Tiefflüge? Wo sollen sie zum Einsatz gebracht werden? Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, dringt Nachtauge auf den Militärflugplatz Scampton ein, wo die designierten Piloten der 617. Staffel der Royal Air Force stationiert sind. Dabei geht sie buchstäblich über Leichen, nur um die eine entscheidende Information noch rechtzeitig zurück nach Deutschland funken zu können.

Titus Müller hat als historischen Hintergrund für "Nachtauge" die Operation Chastise vom 16./17. Mai 1943 gewählt. Damals gelang es der Royal Air Force, mit Hilfe neu entwickelter Bomben und technisch schwierig auszuführender Flugmanöver Eder- und Möhnetalsperre zu zerstören und dadurch den Nachschub im Deutschen Reich empfindlich zu treffen. Vor allem aber konnten die Engländer diesen Erfolg hervorragend in ihrer Propaganda nutzen, da zu dieser Zeit der Kriegsausgang trotz der deutschen Niederlage bei Stalingrad noch offen war. Müller hat diese historische Vorlage sehr gut studiert und lässt sein fundiertes Wissen über die Zeit und die Menschen in seinen Roman einfließen.

Was in der Darstellung des deutschen Kriegsalltags vor allem deutlich zutage tritt, ist der innere Konflikt, den viele Deutsche in diesen Tagen durchlitten. Zum einen waren ihnen die Konsequenzen bewusst, die ihnen bei nicht-konformem Verhalten drohten, doch widersprach dies in der Regel ihren eigenen Überzeugungen, was für Menschen wie Georg Hartmann schrittweise zu einer unerträglichen Situation führte. Neben der historischen Präzision wird genau diese Gefühlswelt von Titus Müller in "Nachtauge" hervorragend übermittelt.

Die verzweifelten Versuche, den alles entscheidenden Funkspruch abzusetzen, erinnert den Freund historischer Romane natürlich zugleich an "Die Nadel", Ken Folletts Erfolgsroman aus dem Jahre 1978. Doch kennt Müller nicht nur schwarz und weiß, sondern er gibt seinen Charakteren ein glaubhaftes Profil, das "Nachtauge" dank der vielen sehr gut recherchierten Details zu einem realitätsnahen Zeugnis des Krieges macht. Selbst für die Liebesgeschichte zwischen Georg und Nadjeschka gibt es eine historische Entsprechung, die Müller im Anhang des Buches neben anderen Informationen für den Leser bereithält.

Christoph Mahnel
06.05.2013

 
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Das Buch:

Titus Müller: Nachtauge

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München: Blessing Verlag 2013
480 S., € 19,99
ISBN: 978-3-89667-458-6

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