Krimis & Thriller

Die Geister der Vergangenheit ruhen nie

Bereits im Alter von 16 Jahren schrieb die deutsche Erfolgsautorin Charlotte Link ihr Erstlingswerk "Die schöne Helena". Nunmehr hat sie 17 Romane geschrieben (u. a. "Das Haus der Schwestern", "Die Rosenzüchterin" und "Das Echo der Schuld"), die sich einer breiten Leserschaft erfreuen durften. Nicht von ungefähr kommt es, dass Links Bücher sich regelmäßig in den Bestsellerlisten finden lassen. Ein Jahr lang mussten Freunde guter Krimis warten, bis endlich im Sommer 2009 "Das andere Kind" erschien. Ein Roman, der sich in bester Manier an Links "psychologische Spannungsromane in englischer Erzähltradition" anschließt und Lesestunden voller Spannung garantiert.

Im idyllischen nordenglischen Küstenort Scarborough geschieht ein grausamer Mord. Eine junge Studentin wird auf ihrem Heimweg überfallen und mehrmals mit dem Kopf gegen eine Steinwand geschleudert. Die äußerst brutale Vorgehensweise des Täters stellt Detective Inspector Valerie Almond vor ein Rätsel: Wer kann diese Frau so sehr gehasst haben, dass sie Stunden voller Qual und Schmerzen verbringen musste? Anzeichen für ein Sexualverbrechen und einen Raubüberfall sind nicht vorhanden. Zudem ging der Täter äußerst überlegt vor, denn Spuren wie Fingerabdrücke, Haare und Stoffreste konnten nicht gefunden werden. Lange tappen die Ermittler vollkommen im Dunkeln, bis drei Monate später ein weiterer Mord geschieht, der mit ähnlicher Brutalität durchgeführt wird wie der an der Studentin.

Das zweite Mordopfer ist die beinahe 80-jährige Witwe Fiona, die für ihre direkte, schonungslose Art bekannt war. Am Abend der Tat findet eine Feier zu Ehren der Verlobung Gwen Becketts, der Tochter eines alten Freundes, mit "ihrem" Dave statt. Diese endet jäh in einem Eklat. Der Grund für den Streit ist der Verdacht Fionas, dass Dave seine Verlobte eigentlich gar nicht liebt, sondern einzig an ihrem Erbe interessiert ist. Wenn er erst die Farm der Becketts besitzt, muss er nicht mehr am Rand des Existenzminimums leben und kann sich ein sorgenfreies Leben erfüllen. Voller Wut wegen dieser unglaublichen Beschuldigung flüchtet Dave und fährt ohne ein Wort des Abschieds fort. Am nächsten Tag wird die Leiche Fionas gefunden. Die Polizistin Valerie Almond hat Dave schnell im Verdacht, denn schließlich wurden seine Absichten infrage gestellt und seine Ehre verletzt. Aber ist dies wirklich der Grund für einen Mord?

Im Laufe des Romans wird für den Leser deutlich, dass Dave kaum der Täter sein kann - auch wenn er nach Auffassung von Fionas Enkelin Leslie allen Grund dazu hätte. Nach und nach wird deutlich, dass das Mordmotiv in Fionas Vergangenheit liegt. Einst wurde sie im Laufe des Zweiten Weltkrieges aus der Stadt aufs Land gebracht, um dort vor den Bombenangriffen der Deutschen in Sicherheit zu sein. Mit dem damals elfjährigen Mädchen wurde der achtjährige Brian Somerville auf das Land evakuiert. Brian hatte seine ganze Familie verloren und kein einziges Wort gesprochen - offensichtlich war er geistig zurückgeblieben und sah in Fiona seine "Ersatzmutter". Aber Brians Wunsch nach Zuneigung und Geborgenheit wurde nie erfüllt, denn Fiona lehnte seine Nähe vehement ab und stieß den armen Waisen stets erbarmungslos von sich. Sechzig Jahre später soll Fiona nun dafür die Rechnung bekommen haben. Aber wer war es? Und ist mit Fionas Ermordung ein Ende erreicht? Schließlich hat ihr Freund Chad Beckett, Gwens Vater, gleichfalls schwere Schuld auf sich geladen.

Charlotte Link legt nach "Die letzte Spur" (2008) mit "Das andere Kind" erneut einen brillanten Kriminalroman vor, der seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesseln wird. Im Laufe der Handlung zeichnet Link ausführlich das Innenleben der Protagonisten, Psychogrammen ähnlich, nach, sodass der Leser feine Nuancen zwischen den Charakteren erkennen kann und ähnlich wie Detective Inspector Almond eigene Ermittlungsarbeiten leisten kann. Link fügt dabei raffiniert Seite für Seite, Stück für Stück das Puzzle zusammen, wobei sie am Ende des Romans mit einem letzten großen Showdown aufwartet - bedingt durch eine unerwartete Wendung, die zeigt, das nichts so ist, wie es zuvor zu sein schien. Link beherrscht es meisterlich, die Atmosphäre des Romans vor Spannung knistern zu lassen, sodass der Rezipient sich nur schwer von dem Geschehen lösen kann.

Susann Fleischer
05.10.2009

 
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Das Buch:

Charlotte Link: Das andere Kind

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München: Blanvalet Verlag 2009
672 S., € 24,95
ISBN: 978-3-7645-0279-9

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