Krimis & Thriller

Liebesgeflüster vom Prime

Im Sommer des Jahres 1914 sind den Menschen in Europa letzte unbeschwerte Tage gegönnt, bevor die große Katastrophe über den Kontinent hereinbrechen wird. Während auf dem Festland die düsteren Wolken bereits aufziehen, sind im ob seiner geographischen Lage abgeschotteten England die Befürchtungen hinsichtlich eines Krieges und einer Kriegsbeteiligung junger englischer Männer deutlich weniger präsent. Doch muss sich der amtierende Premierminister H. H. Asquith bereits mit dahingehenden Fragen beschäftigen, man will ja schließlich vorbereitet sein. Im tiefsten Innern wird Asquith allerdings durch die Schmetterlinge in seinem Bauch getrieben. Obwohl er die Sechzig bereits überschritten hat, selbst verheiratet und Vater mehrerer Kinder ist, ist er besessen von Venetia Stanley, einer britischen Adeligen, die gerade vor ihrem 27. Geburtstag steht.

Die Beziehung des britischen Premierministers Herbert Henry Asquith mit Venetia Stanley steht im Mittelpunkt von Robert Harris' neuestem Roman "Abgrund". Während der Titel des Buches bereits auf die prekäre Situation in nahezu allen Ländern Europas zu dieser Zeit hinweist, war einer der wichtigsten Entscheider in einer der bedeutendsten europäischen Nationen derart abgelenkt, dass er seiner Arbeit nicht mehr angemessen hatte nachgehen können. Obgleich der Funke, der den Ersten Weltkrieg entzündete, das Attentat eines serbischen Freischärlers auf den österreichischen Thronfolger war, erfasste die Mobilisierung in Windeseile ganz Europa, so dass sich auch England aufgrund von Bündnisverpflichtungen nicht hatte entziehen können. In den ersten Kriegsmonaten wird England eine desaströse Bilanz aufweisen, die in den massiven Verlusten in der Schlacht von Gallipoli gipfelt.

Robert Harris, der Altmeister des zeitgeschichtlichen Romans, hat mit der Beziehung zwischen altem Premier und junger Schönheit ein Thema ausgegraben, das insbesondere hierzulande nicht viele Fans seiner Romane auf dem Radar gehabt haben dürften. In der Vergangenheit war Harris in seinen Romanen bei der Auswahl seiner geschichtlichen Hintergründe kreuz und quer durch die Menschheitsgeschichte gesurft. Mit seiner "Cicero"-Trilogie hatte er zurück in das erste vorchristliche Jahrhundert gegriffen. Viele seiner Romane wie "Vaterland", "Engima" oder "Vergeltung" wiesen einen starken Bezug zu Themen des Zweiten Weltkriegs auf, während er in "Königsmörder" weit zurück in die englische Geschichte ging oder in "Intrige" einen Abstecher in ein düsteres Kapitel der französischen Geschichte machte. Nun also begibt er sich mit "Abgrund" in die Entstehungsphase des Ersten Weltkriegs und den Verlauf der ersten Kriegsmonate, wobei er hier eine sehr englische Perspektive auf die auf dem Kontinent stattfindenden Geschehnisse einnimmt.

Die Liaison zwischen Asquith und Stanley ist historisch verbürgt und belegt durch 560 Originalbriefe, die von Asquith an Stanley gerichtet waren. Nachfahren von ihr hatten diese Briefe, die heute in einer Bibliothek in Oxford lagern, zunächst gehortet und später veröffentlicht. Für die nicht mehr existenten Briefe von Stanley an Asquith musste Harris die ihm zustehenden schriftstellerischen Freiheitsgrade bemühen. Der historische Wert dieser Briefe ist aufgrund des Umstandes, dass Asquith seiner Geliebten streng geheime Informationen preisgegeben hat, die in England nur ganz wenigen Menschen zur Verfügung standen, enorm. Darüber hinaus machen sie die seelische und psychische Zerrissenheit des Premierministers transparent. Als Leser ist man während der Lektüre von "Abgrund" mitunter peinlich berührt, wenn man sich vor Augen führt, wie sich ein Premierminister derart zum Liebeskasper für seine Geliebte macht, die durchaus seine Tochter sein könnte. Sicherlich mag der antiquierte Schreibstil des Briefwechsels dieses Gefühl noch ein wenig befeuern.

Wenn ein neuer Roman von Robert Harris angekündigt wird, ist dies stets ein besonderer Termin im Bücherkalender und setzt sogleich extrem hohe Erwartungen bei seinen Lesern. "Abgrund" umfasst einen Zeitraum von gut zehn Monaten in den ersten beiden Kriegsjahren 1914/15 und lässt leider kaum einen Spannungsbogen erkennen. Lediglich die Passagen mit dem fiktiven Paul Deemer, der die Aufgabe hat, die Korrespondenz zwischen Asquith und Stanley aufgrund des Spionageverdachts zu überwachen, lassen einen Hauch von Spannung entstehen. Dagegen plätschert die ungleiche Beziehung des "Prime", wie Asquith von Stanley gerne genannt wird, auf ihren unweigerlichen Schlusspunkt zu.

Robert Harris ist es gelungen, ein hierzulande recht unbekanntes Thema auf einer historisch verbürgten Basis in Romanform zu entwickeln und einem Einblicke zu geben in den politischen Apparat einer Weltmacht und dessen Verletzlichkeit, wenn menschliche Gefühle und Gelüste ins Spiel kommen.

Christoph Mahnel 
13.01.2025

 
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Das Buch:

Robert Harris: Abgrund. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller

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München: Heyne Verlag 2024 512 S., € 25,00 ISBN: 978-3-453-27372-6

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