Gedichtbände
Dichtung als verwobene Wirklichkeit
Jedes Buch eine persönliche Fährte, jedes Gedicht ein Fingerabdruck. Was könnte das im Fall des Gedichtbändchens "Am Grat entlang" heißen, das Franziska Wagner vorlegt?
Eines vorweg: Die Gedichte gehören nicht zur leichten Sorte. Und wenn man glaubt, kürzere Strophen rascher aufnehmen zu können, hat man sich gründlich getäuscht. Denn Wortkürze erzeugt Denkweite, und kompress angelegte Sprache, wie wir sie bei Franziska Wagner vorfinden, erzeugt ein Sinnen und Sinnieren. Die Sätze sind oft hart geschnitten, die Themen nur angetupft. "Twitterfähig", möchte man in der heutigen Social-Media-Zeit sagen. Die Sprache ist von hohem spezifischem Gewicht, könnte man es noch deutlicher ausdrücken. Dass manche Stelle sprachlich sorgsam verschlüsselt ist, erklärt die anregende Wirkung des Buchs.
Wenn man den "Spätsommer" aufmerksam liest, vielleicht sogar innerlich laut liest, kommt man dem Wesen von Wagners Dichtung am ehesten auf die Spur:
Schritte im Park
knirschen die
Sonne mahlt Schatten
wärmt jedes Haar
Worte treffen den Wind.
Wer den Zeilenfall beachtet, entdeckt das Hin und Her der Sätze. Sie wiegen vor und zurück wie Wellen an der flachen Küste. Wo endet der Satzteil, wo beginnt der nächste? Was besagt es, wenn man im Nachhinein die Satzbedeutung revidiert, weil man die Wörter nach eigenem Empfinden neu reiht? Die Strophenbildung mit dem Zeilenfall dieser Art ist wohl das Typische des Buches. Die Sätze rollen wie unter einem Wiegemesser, ein Hin erzeugt einen ersten Sinngehalt, das Her einen zweiten. Nichts wird festzementiert.
Steckt darin eine Aufforderung, doch selber den Rhythmus zu erspüren? Bietet Franziska Wagner die Worte nur an, um Entscheidungen im Verständnis zu provozieren? Will sie leise zum Verstehen zwingen? Ähnliche Beispiele stecken in den Gedichten "Macht" und "Dazwischen". Das letztgenannte könnte so etwas wie den Schlüssel zum Werk überhaupt darstellen. Es verrät die Flüchtigkeit der Erscheinungen und wohl auch der Wahrnehmung durch den Menschen. Man tut gut daran, dieses drittletzte Gedicht zuerst zu lesen.
Die Worte sitzen gekonnt an ihrer Stelle, auch oder gerade wenn sie bizarre Züge bilden. Das gilt auch für die sanften Gedichte dieser 88-seitigen Sammlung, etwa den wunderschön-ernsten Dreizeiler "Demenz" oder den bereits zuvor erwähnten Achtzeiler "Dazwischen". Vieles kommt dabei stoßweise daher, ein Rap im Gedichtband, so wild wie die Wirklichkeit. Anderes liest sich elegant und fließend. Mitunter verraten Fließtitel das Verwobene dieser dichterischen Ausdrucksweise.
"Am Grat entlang" ist ein gelungener Band, dem man Leserinnen und Leser gönnt, die vor allem empfinden können und dies zulassen, ehe sie vorschnell sezieren und interpretieren und analysieren.
Ronald Roggen
16.05.2011