Gedichtbände

Gedichte für den Tiefgang

Für einen Schnelldurchgang ist das vorliegende Buch nichts. Der Gedichtband "In der Kreide" verlangt Freude am Verweilen und Sinn für ein Auf-den-Grund-Gehen. Die in Wien geborene Autorin, Johanna Kindermann, hat mit dieser blau umfassten Gedichtsammlung etwas vorgelegt, was Betrachtung erwartet. Ein Buch, das als Büchlein rasches Lesen vorgaukelt, aber in Wirklichkeit als Werk für gründliches Bedenken in der Hand liegt.

Alte schwere Worte finden sich in diesem so leichten kleinen Buch. Es wird aus alten Bottichen geschöpft und es werden Felder bestellt. Die Sprache setzt aber nicht nur Signale, verlegt nicht nur an andere Orte und in fremde Zeiten. Sie erfüllt bei Kindermann eine grundlegende Funktion. Sprache kleidet den nackten Menschen. Dem Wort ist etwas Beständiges zugedacht, vom ihm wird man überwältigt, das Wort ist etwas, was zur Innerlichkeit führt oder gar Innerlichkeit selber setzt. Die Tiefe des Sees, das ist der weite Raum, in welchem die Texte sich ahnungsvoll finden lassen.

"In der Kreide" steht im landläufigen Wortgebrauch für ein gewisses In-der-Schuld-Stehen, auch wenn dieses keine dramatischen Züge trägt. Es ist wohl mehr die Schuld im Sinne einer Dankbarkeit. Von Schuldspuren ist in einem Gedicht die Rede. Manches ist gebetsartig angelegt, anderes schöpft aus Antikem oder aus dem Leben und Schaffen Großer.

"In deinen Spuren bin ich angetreten", schreibt Johanna Kindermann in einem Gedicht, auf Giordano Bruno gemünzt. Giordano Bruno, der 1548 geboren wurde und 1600 starb - wegen Ketzerei und Magie für schuldig befunden. Es brauchte die lange Zeit bis ins Jahr 2000, um Rom zu bewegen, die Hinrichtung für Unrecht zu erklären. Dieser Dominikaner steht für Unendlichkeit und Ewigkeit, für einen Pantheismus, der keine Grenze zum Jenseits zulässt und die Anfangslosigkeit der Schöpfung wie auch deren Endlosigkeit verheißt. Kein leichtes Leben, es endete im Kerker und dann auf dem Scheiterhaufen, nachdem Bruno den Satz geprägt hatte: "Mit größerer Furcht verkündet Ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme." Es mag diese Größe gewesen sein, die Johanna Kindermann im Respektsabstand eine Art Nachfolge antreten ließ.

Dazu, nicht zufällig, der große Lyriker Hölderlin, der Dichter des Turms. Da wird es niemanden erstaunen, wenn die Gedichtsammlung vielerorts Entsagen, Sehnsucht und Verlangen aufscheinen lässt. "Ahnungsschnur" heißt es in einem Kinderlied. Aber eben: auch Kindliches, Spielerisches springt daher. Das fügt eine gewisse, ohne Zweifel willkommene Unbeschwertheit hinzu.

Es lohnt sich, das Ohr an die Rhythmik dieser Gedichte zu legen, sich im Kreis wiegen zu lassen. Und, wie gesagt, die Muße dem einzelnen Ausdruck zu widmen, der wohlgesetzt erscheint und gedeutet werden will.

Die Haltung ist die der Bereitschaft. Man hört den Ton des Respekts heraus und erkennt den Weg der Nachfolge. Schauen, eine Vision, eine Deutung - etwa einer Figur -, all das lässt sich aufnehmen, wenn man bereit ist, langsamer zu werden und die Worte wirken zu lassen. "Entwerden", was steckt allein schon in diesem knappen Verb.

Die Form bietet sich der fehlenden Interpunktion einigen Lesern wohl etwas fremd dar. Auch wird nicht jede Figur ohne weiteres jedem Leser so klar und geläufig sein. Antike ist nicht im Kiosk zu haben, Antike ist Bildungshintergrund, der sich allerdings heute leichter als früher bestücken lässt.

Ronald Roggen 
10.05.2010

 
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Das Buch:

Johanna Kindermann: In der Kreide. Gedichte

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München: Realis-Verlag 2008
51 S., € 9,90
ISBN: 978-3-200-01798-6

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