Erzählbände & Kurzprosa

Ein Juwel der Literatur

April 1989: Eine weiße Endzwanzigerin wird auf ihrer abendlichen Laufrunde durch den Central Park von sechs schwarzen Jugendlichen überfallen und vergewaltigt. Sie überlebt den Angriff lebensgefährlich verletzt, der darauf folgende Strafprozess hält New York über Monate in Atem. In ihrer titelgebenden Reportage "Sentimentale Reisen" beschäftigt Joan Didion allerdings weniger der Vorfall selbst als vielmehr die öffentliche Debatte und die sie bestimmende Sehnsucht danach, die oft frustrierend komplexe Realität auf vereinfachende Narrative von Gut und Böse, Schwarz und Weiß zu reduzieren. In diesem und den weiteren Essays und Reportagen widmet sich Didion unterschiedlichen Phänomenen ihrer Zeit.

Indem sie von Momentaufnahmen der US-amerikanischen Gegenwart ausgeht und von persönlichen Begegnungen mit Schauspielern, Politikern und anderen Figuren des öffentlichen Lebens, zeigt Didion die Sehnsüchte und Widersprüche, die Denkmuster und Handlungsweisen auf, die den Geist jener Jahre prägen. Den Leser lässt die New Yorkerin unmittelbar an ihren Einsichten teilhaben. Dabei scheut sich Didion nicht, die Sache oftmals beim Namen zu nennen. Doch sie vermag es auf eine Art und Weise wie nur die wenigsten ihrer Schriftstellerkollegen, nämlich auf eine besonders poetisch schöne. Nach der Lektüre sieht man vieles plötzlich mit anderen Augen. Denn nicht selten ist die Welt eher Schein als Sein ...

Literatur wie ein einziger Rausch - Joan Didion schreibt ihre Leser ganz schwindelig. So amüsante und zugleich zum Niederknien gute Unterhaltung wie mit "Sentimentale Reisen" hat man garantiert noch niemals zuvor in die Hände gekriegt. Ab der ersten Seite, sogar ab dem ersten Satz bekommt man sich kaum noch ein vor lauter Lesebegeisterung. Man liest "Geschichte" nach "Geschichte" und kann gar nicht mehr aufhören. Was Didions Feder entstammt, macht hochgradig süchtig, und auch glücklich. Ein schöneres Lesevergnügen steht nur äußerst selten im Bücherregal. Kein Wunder, dass man immer wieder und wieder zu dem vorliegenden Band greifen wird. Es bringt einfach jedes Leserherz zum Hüpfen.

Joan Didion beherrscht die Erzählkunst so meisterhaft wie ein Paul Auster, ein Henry James oder eine Zelda Fitzgerald. Sie gilt als eine der brillantesten Autorinnen der USA. Die in "Sentimentale Reisen" versammelten Essays und Reportagen aus den Jahren 1982 bis 1992 belegen dies eindrucksvoll. Was man hier zwischen zwei Buchdeckeln zu finden vermag, kommt einer Verführung gleich. Und einfach niemand kann dieser widerstehen.

Susann Fleischer
06.02.2017

 
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Das Buch:

Joan Didion: Sentimentale Reisen. Essays. Aus dem Amerikanischen von Mary Fran Gilbert, Karin Graf, Sabine Hedinger, Eike Schönfeld

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Berlin: Ullstein Buchverlag 2016
336 S., € 22,00
ISBN: 978-3-550-08134-7

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