Erzählbände & Kurzprosa

Der Bogen des Cidrestrahls

Sep?lvedas Erz?hlband hei?t urspr?nglich Desencuentros: Verfehlte Begegnungen ? verfehlte Begegnungen mit Freunden, mit sich selbst, zwischen Liebenden oder "verfehlte Begegnungen in jenen Zeiten", womit die 4 Kapitel bezeichnet sind, die die folgenden 27 Kurzgeschichten beherbergen. Ist auch das Thema ein ?hnliches, so er?ffnet doch jede Geschichte ein neues Universum. War man eben noch mit einem Geisterzug unterwegs, dessen Insassen aus dem Radio vernehmen, dass sie bereits tot sind, so dreht sich die n?chste um eine geheimnisvolle gr?ne T?r mit einer bronzenen Hand, die der Erz?hler auf einem Foto in einer Galerie wiederentdeckt. Dass es sich hierbei um eine Erinnerung handelt, die einen pr?genden Eindruck im Leben des Protagonisten hinterlassen haben muss, sagt uns schon das voran gestellte Zitat von Osvaldo Soriano; nicht selten nutzt Sep?lveda diese Technik der Vorausdeutung, um den Leser einzustimmen und seine Neugierde zu wecken.

Besondere Aufmerksamkeit verdient jene Parabel des Erwachsenwerdens, die mit Etwas, was ich in einem Zug verlor ?bertitelt ist. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Wortes "Begegnung", die sich in dieser Geschichte als (wenn auch nur in der Fantasie eines 14j?hrigen zu realisierende) verpasste Gelegenheit entpuppt, mit einem Verbrecher zu t?rmen und das Leben eines Gesetzlosen zu f?hren. Es ist eine zeitenthobene Geschichte ? eine endlos scheinende Bahnfahrt, w?hrend der sich die beiden "Freunde" gegen?bersitzen ?, in der die Fantasie des Jungen die Hauptrolle spielt. Althergebrachte Sagen, die Lust am Unbekannten und die Wirklichkeit ?bersteigende grandiose Wunschtr?ume vermischen sich zu einer Traumwelt, deren Walten j?h unterbrochen wird, als der Schaffner die Station aufruft, an der Vater und Sohn aussteigen m?ssen: "Nein. Das konnte nicht sein. Gerade als der Gefangene und ich im Begriff standen, die Freiheit zu gewinnen. Was sollte er ohne meine Hilfe anfangen? Er w?rde warten, bis der Polizist fest schlief, und ihm dann das Messer an den Hals setzen, w?hrend ich nach dem Schl?ssel suchte und ihn von seinen Handschellen befreite. Nein. Das durfte jetzt nicht anders kommen." Die Entt?uschung schl?gt schlie?lich um in Verrat, als der Junge seine Beobachtung preisgibt und der Vater die Polizei ?ber den Waffenbesitz des Verbrechers informiert.

Im dritten Kapitel ? "verfehlte Begegnungen in jenen Zeiten" ? setzt Sep?lveda sich vor allem mit chilenischer Unterdr?ckungsgeschichte auseinander. Ob es die Angst um die eigene Unversehrtheit in Mitten in der Nacht ist ein Auto vorgefahren ist oder die Schilderung jener d?nn besiedelten W?stengebiete im Norden Chiles, in die Gegner des Pinochet-Regimes verbannt wurden, in Protokolle von Troja ? hier wie da entzieht sich der Mensch der staatlichen Macht. In Der Bibliothekar geschieht dies durch eine Art r?ckw?rtsgewandter Utopie zu einem Ort mit Namen Huexotingo, in der noch Musik und Poesie das Tun der Menschen leitete ? eine Meditation auf die Kr?fte der dichterischen, oder allgemein: komponierenden (i.S. von neue Welten entwerfenden), herrschaftsfreien Fantasie.

Sep?lvedas Geschichten spielen an den verschiedensten Orten der Welt, in einem Friseursalon in Santiago, auf dem Hamburger Hauptbahnhof, in einem kleinen Antiquariat in Prag; seine Helden sind Suchende, Reisende, Fliehende ? sie alle sind auf der Jagd nach diesem magischen Moment der Titelgeschichte, in dem der Cidrestrahl einen perfekten Bogen beschreibt, den man wohl mit Recht das Tor zum Paradies nennen k?nnte. Und einige dieser Geschichten bleiben unwiderruflich im Ged?chtnis haften, wie eine Melodie, deren zart-wehm?tigen Ton man nicht so schnell vergessen wird.

Nicole St?cker
04.04.2005

 
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Das Buch:

Luis Sepúlveda: Wie man das Meer sehen kann

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München: dtv, 2005
265 S., € 9,00
ISBN: 3-4231-32973

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