Erzählbände & Kurzprosa

Ein starkes Humanum

Ein Buch mit einem Geheimnis. Damit fängt es an. Das knüpft sich an die Anagramme (Erklärung dazu bereits im Vorwort). Alle überhundert Namen dieses Buchs sind aus einem originalen Namen abgeleitet, der erschlüsselbar ist – von pfiffigen Lesern. Hinweise dazu im Buch, aber ein Rest Geheimnis muß bleiben.

Ein Wahnsinnstyp reicht aus zu fast allen Wahnsinnstaten der Welt. Ein einziger verdorbener Charakter, ein einziger verkommener Mensch ist mehr oder weniger zu allen Schandtaten fähig; Einzelheiten werden lediglich von Zufällen bedingt. Ein Durchschnittscharakter – das ist es ja eben: Mittelmaß. Wenn dann die Primitivität eines brutalen Egoisten dazukommt, ergibt sich alles, bis zum Extrem: Wahnsinnshandlungen, Unsinnshandlungen, Egoismen aus Denkfaulheit, Besserwisserei, Bequemlichkeit, aber auch Gier und Wut, Haß und Leidenschaft, Bedrohung und höchste Gefahr – so viel wird im Text offensichtlich. Damit aber Ekel und Abscheu beim Leser nicht überhand nehmen, führen die kleinen Absätze – jeweils einzeln lesbare Ereignisse – uns in drastische Vorfälle, ernste und heitere, böse und urkomische Situationen und vom feinen Schmunzeln ins heftige, bauchfellbrechende Lachen, in Ausbrüche, die für eine Woche Heiterkeit ausreichen. Abhängig freilich von Temperament und Mentalität des Lesers.

Das klingt nach einem Buch Schwänke; aber das schwankhafte Groteske ist notwendig, um uns stark zu machen gegen das Bitterernste. Denn das Buch ist angelegt als eine Schule. So nannte man früher ganze Theaterstücke und Romane, wenn sie als Lehrbeispiele dienen konnten für ein bestimmtes Thema. Hier könnte das Thema lauten: Der unerkannte Wahnsinn, der uns umgibt. Der Wahnsinn der Welt. Dagegen der Sinn, den man uns verkauft: Wahnsinn pur. Das wird fast unmerklich ins Intellektuelle übergeführt und als hochkomplizierter Diskurs behandelt. Aber ehe es langweilen oder weniger Denkgeübte überfordern muß, fällt schon wieder die Komik ins Wort und läßt den lachenden Leser gern zustimmen zu den leicht gewonnenen schwierigeren Erkenntnissen – eine Kunst für sich, die der Autor glücklich beherrscht: das Diffizile zu berühren und mit leichter Hand in die Erkenntnis zu führen, ehe dem Leser die ungeheure Problematik auffällt. Ehe wir bemerken, wie steil und hoch der Berg ist, stehen wir schon oben und genießen den Ausblick.

Wie die über hundert Texte ihre aufgesplitterten Einzelthemen und ihr übergeordnetes Gesamtthema in pure Literatur von Qualität verwandeln, halte ich für bemerkenswert, vor allem höchst lesenswert. Psychologie wird fachlich berührt, aber der Fachwissenschaft wird nicht das Wort überlassen: wir bleiben in der Belletristik. Philosophiert wird reichlich, aber wortführend ist allein die Literatur. So braucht sich dieser Text mit seinem Denkanspruch und mit seinen Lösungen auch vor keiner außerliterarischen Instanz zu verstecken und stellt etwas Ansehnliches und Achtbares dar: ein starkes Humanum, gleichzeitig ernst zu nehmende, echte Literatur. Daß aber das tiefere Ernste so heiter daherkommt, geschieht uns allzu selten und sollte als ein Glücksfall beachtet werden.

J. Nimmergut
20.08.2004

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Jürgen Timm: Wahnsinnstypen

CMS_IMGTITLE[1]

Frankfurt a.M., München, London, New York: Weimarer Schillerpresse 2004
110 S.
ISBN: 3-8267-5541-3

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.