Erzählbände & Kurzprosa

Hommage an das wahre Künstlertum

Wenn Schriftsteller mitten in der Arbeit an einem neuen Werk sterben, so ist das f?r die Literaturwissenschaft eine gro?e Herausforderung. Man forscht, welche Intention der Dichter hatte und wie er weiter vorgehen wollte. Meist sind Briefe, Notizen und Tagebucheintragungen hilfreich. Doch E.T.A. Hoffmann l?sst uns da v?llig im Stich.  Es geh?rt also eine gro?e Portion Mut dazu und vor allem eine immense Kenntnis des Hoffmann?schen Gedankengeb?udes, wenn ein Autor sich daran macht, ein noch sehr unausgefeiltes Fragment vollenden zu wollen.

Klaus Deterding ist beides zu Eigen und er erreicht es, dass ohne den Hinweis im Anhang wohl niemand den Finger auf die Nahtstelle legen k?nnte. Das allein ist schon eine gro?artige Leistung. Doch fragen wir uns, welches Werk entstand dabei. Hat es sich gelohnt f?r den Leser, dass hier eine vor beinahe 200 Jahren angelegte Novelle fertiggeschrieben wurde?
Die Handlung spielt im Jahre 1524 in N?rnberg. Der Renaissance-Maler Albrecht D?rer und ein imagin?rer Pflegesohn namens Raphael, Mathilde, eine bezaubernde Patriziertochter sind die Hauptfiguren sowie eine dunkle Gegengestalt, der Ritter Solfaterra. Hoffmann legt die einzelnen Erz?hlstr?nge so an, dass sich letztlich alles um Liebe und Hass dreht, aber auch um die Selbstzweifel eines genialen K?nstlers. Es muss eine Geschichte vor der Geschichte geben, die in der Novelle ans Licht kommen und zu einem Ende gef?hrt werden soll.

In den ersten zweieinhalb Kapiteln hat Hoffmann einen Kosmos geschaffen, der im Folgenden belebt werden muss. Die Einf?hrung in die Handlung geschieht durch die fr?hlichen Zecher im "Wei?en Lamm". Dort st?rt ein "auffallend h?sslicher Kerl" die Runde mit der Frage, ob Albrecht D?rer noch lebt. Er und der Leser erfahren, dass in der kommenden Woche eine gro?e Feier zu Ehren des Meisters und seines neuesten und subtilsten Werkes, der "Kreuzigung Christi", im Kaisersaal geplant ist. Der ?lteste und Gelehrteste der Runde, Doktor Mathias Salmasius, erkennt den Frager: Es ist Solfaterra, dem er droht: "Was wollt Ihr hier? Noch haben die N?rnberger Euch nicht vergessen."(S.22)

Im zweiten Kapitel wird der n?chste Handlungsstrang vorgestellt: Nach der Sonntagsandacht trifft sich das Volk auf der Hallerwiese. Zwei J?nglinge geraten in Streit und einer ist so voller J?hzorn, dass er ein Messer zieht. Der J?ngling Raphael wird in rasch aufeinanderfolgenden Bildern als ungest?m und zornig, ?bersch?umend und leidenschaftlich geschildert. Als n?chstes f?llt er auf, in dem er sich der sch?nen Patriziertochter Mathilde Harsd?rfer n?hert und sie in seinem Liebeswahn kompromittiert. Ihr Vater ist entsetzt. Kurz darauf h?ren wir, dass Albrecht D?rer der Ziehvater des jungen Mannes ist. Auch er stellt ihn ebenfalls zur Rede wegen seines Auftritts.

Im Hause Harsd?rfer erf?hrt die sehr verliebte Mathilde inzwischen Raphaels Vorgeschichte: Raphaels Vater, Dietrich Irmsh?fer, und Albrecht D?rer waren einmal gute Freunde. Ihre V?ter waren Goldschmiede und ebenfalls "gute Kumpane". Die S?hne entschieden sich f?r die Malerei und w?hrend Albrecht religi?sen Themen zuneigte, war Dietrichs Thema die weltliche Lust. Der eine wurde hoch gepriesen, der andere als St?mper verworfen und so begann Dietrich seinen Freund zu hassen. Er kam in Kontakt mit eben jenem Solfaterra, einem italienischen Maler, der ein b?ser Mensch war. Solfaterra soll dem jungen D?rer nach dem Leben getrachtet haben. Dietrich hatte inzwischen - ganz unter dem Einfluss des B?sen - die Patriziertochter Rosa verf?hrt und war mit ihr geflohen, da er wie auch Solfaterra unter Mordverdacht stand und an den Galgen sollte.

Jahre sp?ter fand ein N?rnberger Kaufmann ein Bettelweib mit einem Kind. Es handelte sich um Rosa und ihren Sohn Raphael. Rosa stirbt und der Kaufmann nimmt den Knaben zu sich.
W?hrend im "Wei?en Lamm" D?rers Loblied gesungen wird und man auch ?ber Irmsh?fer und Solfaterra spricht, treffen D?rer und Salmasius im Kaisersaal zusammen, bevor die Feier beginnt. D?rers Ahnung sagt ihm, dass Solfaterra wieder da ist. Mit diesem Gespr?ch endet der Hoffmann?sche Text.
Kongenial gelingt es Klaus Deterding die F?den weiterzuf?hren und miteinander zu verkn?pfen. Der furiose Beginn ist ein gro?artiger Einstieg in die Gedankenwelt D?rers. Deterding l?sst ihn einen Monolog des Selbstzweifels sprechen, der diese Novelle erst wirklich zu einer K?nstlernovelle macht.
Der Festakt beginnt und D?rer trifft auf Solfaterra. Noch w?hrend der Laudatio h?lt es ihn nicht mehr auf dem Platz, er kann noch "Verruchter! Hebe dich hinweg" (S.55) rufen, bevor er zusammenbricht. Ein Tumult entsteht, Salmasius hilft dem Freund und die Honoratioren versichern ihm ihr Mitgef?hl. In einem Zimmer des Rathauses kann er sich nun ausruhen. Wieder scheint Solfaterra in der N?he und Mathias versucht, ihn zu stellen.

Deterding gestaltet die angedeutete Geschichte aus, warum Solfaterra D?rer nach dem Leben trachtet und er spinnt ebenso den Faden weiter, den Hoffmann mit der Rosa-Geschichte begonnen hat. Beides wirkt sehr ?berzeugend und l??t den Leser nach der genauen Erl?uterung befriedigt zur?ck. Dass der Kaufmann, der sich des kleinen Raphael annahm, in wirtschaftliche Not geriet und der Kleine die Aufmerksamkeit D?rer erregte, erscheint mir eine recht plausible Erkl?rung daf?r, dass D?rer Raphael als Ziehsohn annahm. Ein wichtiges Indiz f?r den Charakter des Jungen ist die Erkenntnis seines Pflegevaters: "Raphael fehlte das tiefe Gem?t des K?nstlers ... fehlte die Liebe zu den alten Meistern ... Er wollte nichts als er selbst sein und war insgeheim ?berzeugt, dass er dieses Selbst l?ngst sei, dieses Ich, diese fertige K?nstler-Pers?nlichkeit." (S. 78) Indem Deterding diese Erl?uterungen an das von Hoffmann gestaltete 2. Kapitel ankn?pft, erh?lt die Erz?hlung als Ganzes eine kontinuierliche Form.

Ein S?ngerwettstreit auf der Hallerwiese soll nun der n?chste H?hepunkt der N?rnberger Gesellschaft sein. Wie auch bei dem Festakt im Kaisersaal, so treten auch hier die bekannten Personen aus dem "Wei?en Lamm" wieder in Erscheinung. Sie sind von Hoffmann so angelegt und werden von Deterding ebenfalls so ben?tzt, um die Handlung zu kommentieren.
Raphael gilt als Favorit und ist sich seines Sieges sicher. Hier bedient sich der Autor eines Kunstgriffs und l?sst eine neue Person erscheinen, die die Raphael- Mathilde- Handlung ver?ndert und zu einem ?berraschenden Ende f?hrt. Dietrich von Hohentwiehl, der von Mathias Salmasius in den Kreis der S?nger eingef?hrt wird, f?gt sich harmonisch in die von Hoffmann entworfene Welt ein. Salmasius wird so wieder seiner Rolle als Vermittler gerecht.

Dietrich wird einstimmig zum Sieger des Wettgesanges erkl?rt und damit brandet der J?hzorn Raphaels erneut auf. Raphael hat sich nachahmend an die Regeln des Meistersanges gehalten, w?hrend der fremde S?nger dar?ber hinaus ging und ein K?nstlertum gezeigt hat, dass aus der Tiefe des Gem?ts geboren wird. Raphael unterstellt Mathilde, sie habe wohl f?r ihn gestimmt und man habe ihre Stimme nicht h?ren wollen.

Doch da erhebt sich Mathilde, sie tritt aus dem "schamhaft-err?tendes M?dchen"-Image heraus und stellt sich nicht nur auf die Seite Dietrichs, sondern vernichtet auch Raphael als K?nstler mitsamt all seinen Hoffnungen, sie jemals gewinnen zu k?nnen: "Herr Raphael D?rer! Nicht nur die eigene Ehre habt Ihr besudelt ... nicht nur meine Ehre habt Ihr verletzt ... auch das Gericht habt Ihr frech und gr?blich beleidigt ... Und dies, mein Herr, ist Euer schwerstes Vergehen ... Ich erkl?re Euch aber, erkl?re es vor aller Augen und Ohren, dass Ihr, da Ihr die alten Meister beleidigt und verh?hnt, auch des zweiten Preises nicht w?rdig seid. ... F?r mich habt Ihr gar nicht an dem Kampf der S?nger teilgenommen." (S.97)
Dietrich von Hohentwiehl gewinnt nicht nur den S?ngerwettstreit, er gewinnt auch das Herz Mathildes, ganz im Sinne des Doktor Salmasius, der - so entnehmen wir manchen Andeutungen - genau dieses im Sinn hatte.

Nun muss noch der Solfaterra-D?rer-Erz?hlstrang zu einem befriedigenden Ende gef?hrt werden. D?rer hat dem Wettstreit auf der Haller?schen Wiese nicht beigewohnt, wegen seiner Ersch?tterung w?hrend des Festaktes im Kaisersaal. Er muss nun erleben, wie Raphael sein B?ndel schn?rt und den entsetzten Pflegeeltern von seinem Entschluss berichtet, sofort nach Italien aufbrechen und erst als ruhmreicher K?nstler zur?ckkehren zu wollen.
Am n?chsten Morgen geht D?rer zum Kaisersaal, um erneut auf Solfaterra zu sto?en. Hier erlebt er einen Kampf Solfaterras gegen sich selbst, den Doppelg?nger in D?rers Bild. Das Bild, ein Selbstbildnis D?rers im Kampf mit Solfaterra, malte der Meister, als Solfaterra versuchte, ihn zu ermorden. Im Ansehen des entsetzlichen Geisterkampfes schwinden D?rer die Sinne. Die Ratsdiener kommen ihm zur Hilfe, Solfaterra stirbt und D?rer wei? nun den Namen seines Gem?ldes: "Der Feind" soll es hei?en.

Auch wenn uns Heutigen die Gem?tslage der Menschen jener fernen Zeit des Romantizismus fremd ist, wenn weinende J?nglinge und verf?hrte Jungfrauen nicht zu unserem Weltbild geh?ren, so ist die Novelle in der uns jetzt vorliegenden Fassung doch ein Gewinn. Sie zeigt uns einerseits E.T.A. Hoffmanns Meisterschaft, Figuren und Handlungsstr?nge anzulegen und zu verkn?pfen und andererseits das Geschick des heutigen Autors, diese F?den aufzugreifen, den Ton und die Form der historischen Novelle nachzuempfinden und eine Geschichte zu vollenden, die eine Hommage an das wahre K?nstlertum ist.

bwe
17.05.2002

 
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Das Buch:

E.T.A. Hoffmann/Klaus Deterding: Der Feind. Das fertige Fragment

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Würzburg: Königshausen & Neumann 2002
108 S.
ISBN: 3-8260-2247-5

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