Erzählbände & Kurzprosa

Himmlische Boten – auch heute aktuell

"Die Sterne waren drau?en letzte Nacht, das ganze Babel des Himmels, der Wind scharf und kalt, und all die Figuren waren auf sein Gew?lbe gemalt, aber ich war wie blind, nichts als nur Lichter standen mir vor Augen, die keine erkennbare Gestalt ergaben. Ich kam gestern allein zu D?monen zur?ck, Gespenstern im Haus, Geistern, die neben mir schliefen und mit mir erwachten, Succubi, Liliths und wie diese Alptr?ume sonst noch hei?en m?gen: mir ist?s egal. Mit Schwefel werd ich sie ausr?uchern. Mit mir ist heute nicht gut auskommen, ... Vielleicht h?tte ich die Flut gar nicht erst abwarten und einfach Segel setzen sollen, vor dem Wind segeln, statt jetzt gegen ihn anzukreuzen ..."

Raoul Schrott hat es seinen Lesern noch nie leicht gemacht. Und das hat er auch in keiner Weise vor ? entweder folgt man ihm in seine Welt oder man bleibt drau?en. Wer es allerdings wagt (es geh?rt nicht viel Mut dazu, nur die Bereitschaft, sich auf ein bisschen geistige Bewegung einzulassen) wird reich beschenkt ? Schrotts Sprache, seine Bilder, seine Quergedanken sind bunt wie die Welt, durch ein Kaleidoskop betrachtet. Es mag die Welt sein, die man mit allen anderen teilt, und doch zeichnet sich die Welt Schrotts durch ihre reichere Bev?lkerung aus.

In diesem bibliophil gestalteten Buch richtet Raoul Schrott sein Augenmerk auf die reiche Engelschar, die uns umgibt. Sachliche Platzanweisungen, welcher Engel in welcher Sph?re seine Heimat hat, bilden den Auftakt zu einer Sammlung von Briefen, Gedanken und Erkenntnissen, die sich um die Liebe drehen. Ein Pfeil Amors hat den Erz?hler getroffen, der piekt und zwingt ihn zu Handlungen. So l?uft der Inhalt des Buches zweigleisig ? auf der einen Seite die Verrenkungen, die Sehnsucht, das Auf und Ab des Herzens des ganz irdischen Verliebten, auf der anderen die Gegensatzpaare der Engel und Heiligen. Welcher Natur Engel sind, welches Geschlecht sie haben, woher ihre Namen stammen oder ihre Fl?gel ? all das findet Raum in diesem Band, verwoben mit den Gedanken des einsamen Erz?hlers am Strand Irlands und anderswo.

Der Text von Raoul Schrott wird ganz sensibel erg?nzt durch die Hagiographien von Arnold Mario Dall?O. Die bekannte Ikonographie von Heiligen, vermischt mit Elementen aus den Legenden, Werkzeuge ihres Martyriums, ?berlieferten Geschichten und unerwarteten Blickwinkeln zeigen die Heiligen in einem neuen Licht. Dall?O stellt keine Schutzengelbildchen auf, seine Heiligen erkennt man nicht an ihrem g?ngigen kunsthistorischen Kanon (Rad? Aha, Katharina!), sondern in jedem Bild steckt eine ganze Welt ? Heilige, deren Geschichte ganz neu gesehen wird. Wer hat denn schon Bonaventura, den Patron der Seidenhersteller und Lastentr?ger, dem ein Engel erschienen war, um ihm eine Hostie auf die Zunge zu legen, mit intensivem Blick auf eben diese Zunge dargestellt? Oder Christophorus, den Christustr?ger, auf seine Beine reduziert, die eigentlich das Wesentliche seiner Legende ausmachen? Die Bilder sind eine Welt f?r sich ? eine Entdeckung jedes einzelne, eine erstaunliche F?lle ?berlieferter und neu gesehener Details. Es sind bekannte und weniger bekannte Heilige, die den Text Schrotts begleiten und durch ihre eigene Sprache erg?nzen.

Das Buch ist handwerklich wundersch?n gestaltet und so ein Erlebnis f?r jeden Liebhaber "sch?ner" B?cher, die man anfassen, immer wieder zur Hand nehmen und als Kostbarkeit betrachten kann. Trotz seiner Optik, die an alte Folianten erinnert, ist das Buch modern ? ein Appell, mehr hinter den Dingen zu sehen und vor allem mehr wissen zu wollen. Es ist einfach so, dass der, der mehr wei?, in den gleichen Alltagsdingen mehr sieht ? nicht nur zwei- oder dreidimensional, sondern hinter den kleinen Dingen den Kosmos erblickt, in den wir Menschen hineingestellt sind und von dessen Bau, Zusammenhalt und vor allem von seinen Auswirkungen auf uns Menschen kaum jemand Kenntnisse besitzt. Es ist wahrhaft mehr zwischen Himmel und Erde, als wir mit unserer technisch-materialistischen Anschauung zu sehen verm?gen. Um mehr zu sehen, brauchen wir wache Augen oder, wie die dargestellte Heilige Odilia, eine Erl?sung aus Blindheit, die bei uns durchaus Seelenblindheit hei?en kann. Ein Buch, das eine Entdeckung werden kann. Vielleicht sogar der Einstieg in die Engel-Thematik?

csc
06.01.2002

 
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Das Buch:

Raoul Schrott / Arnold Mario DallO: Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen

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München, Wien: Carl Hanser Verlag 2001
304 S.
ISBN: 3-446-20020-7

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