Erzählbände & Kurzprosa

Reales Rätsel

Nicht wenige Leser der Literatur hatten schon lange darauf gewartet, dass der Österreicher Josef Winkler, Jahrgang 1953, den deutschen Georg-Büchner-Preis erhält. Das ist 2008 geschehen. Als Österreicher wird Winkler so wenig wahrgenommen wie der Bücher-Preis als deutsche Institution. Der Kärntner Winkler hat die bedeutendste Trophäe davongetragen, die seit Jahrzehnten für bedeutende deutschsprachige Literatur zu ergattern ist. War Winkler eine erwartete Wahl, so wurde der richtige Preisträger durch den richtigen Preis geehrt. Und der Preisträger ehrt den Preis.

Vor guter Jahresfrist erschien Winklers "Roppongi" – mit dem erklärenden Untertitel „Requiem für einen Vater“. Nicht „den“, nicht „meinen“ Vater. Typisch Winkler! Das Einzigartige, Individuelle will der Erzähler in seiner Einzigartigkeit und Individualität nicht zugunsten des Übertragbaren, Allgemeinen verdünnen. Er will aber auch nicht versäumen, im Einzigartigen, Individuellen das Übertragbare, Allgemeine kenntlich machen und zu erkennen geben. Das ist so in seiner „Heimat“ Literatur, das heißt in den Geschichten aus seinem Geburtsort Kamering, den er zu einem Hauptort deutschsprachiger Literatur machte. Das ist so in seinen Geschichten, die immer eindeutiger, entschiedener dem Thema Tod verbunden und verpflichtet sind. Josef Winkler gefällt der Anna-Magnani-Satz „Ein Leben ist Aussicht auf den Friedhof“ nicht nur. Er hat den Satz als einen Lebenswert begriffen, der für ihn von höchster Wichtigkeit ist. Darüber spricht er nicht nur in "Roppongi".

Anläßlich der Preisvergabe hat der Suhrkamp-Verlag die Sammlung „Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot“ publiziert. Die kleine, schnell zusammengestellte Sammlung ist ganz sicher eine Konzession an den Preisträger und sein Publikum, dem zu passender Stunde kein neuer Winkler präsentiert werden kann. Also rasch zwei handvoll erzählerisch-essayistischer, essayistisch-erzählerischer Geschichten zusammengebunden? ! Leser, die ihren Winkler lieben, werden dankbar sein, obwohl die Einzelstücke kein Ersatz für einen neuen, großen Winkler sind. Wer meint, wegen des Preises, nun auch damit beginnen zu müssen, Winkler zu lesen, sollte nicht nach der

Geschichtensammlung greifen. Wer Winkler kennt, "Roppongi" gut im Gedächtnis hat, wird die Ausgabe zu Ehren des Geachteten als eine Verlängerung seiner vielfachen Versuche der Annäherung an den Tod verstehen. Die Geschichten des Sterbens sind so wesentlich-vielfältig, weil überall anders gestorben wird. In Mitteleuropa anders als in Indien oder Mexiko oder... So vergleichbar die „Aussicht auf den Friedhof“, so unterschiedlich der Weg zum Friedhof. Der Weg fasziniert den Schriftsteller, der  e i n  Weg des Lebens ist. Der faszinierendste, den Josef Winkler für sich ausgemacht hat. Der Tod bleibt dem Erzähler ein ständiges Rätsel, ein ewiges Mysterium. Die Geschichten vom Sterben, die der Kärntner wahrnahm, die er schreibend reflektiert, erzählen von den Rätseln des Rätselhaften, von den Mysterien des Mysteriums. Das macht die Geschichten für Jedermann wichtig. Wertvoll sind sie durch die Art der Annäherung an Sterben und Tod. Wertvoll durch Josefs Winklers konsequente schöne sprachliche Schilderung. In Josef Winkler haben wir Einen, dem das Existenzielle so wichtig ist wie das Wort, das Existenzielles artikuliert. Deshalb bringt der Schreiber hervor, was wir Literatur nennen. Immer preiswürdig, des Preisens würdig!

Bernd Heimberger
24.11.2008

 
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Das Buch:

Josef Winkler: Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot

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Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008
125 S., € 9,00
ISBN: 978-3-5181-2556-4

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