Erzählbände & Kurzprosa
Ein Erzählband, der den Leser baff zum Staunen bringt
Für den persischen Dichter Mevlana gleicht der Fromme, der Gott erkennen möchte, einem Blinden, der einen Elefanten abtastet - je nachdem, wohin er greift, spürt er etwas anderes. Auch Angelika Overaths Reportagen, Porträts und Prosastücke, versammelt in "Der Blinde und der Elephant", wagen die Bewegung ins Ungewisse, erkunden das exotische Terrain unserer Wirklichkeit: Sie erzählen von fremden Heimaten, nomadischen Existenzen und flüchtigen Gemeinschaften, entdecken den geheimen Alltag der Derwische, ein Orchester in den vom Terror aufgewühlten Gassen Istanbuls oder einen winzigen verräterischen Farbtupfer in einem Gemälde von Rubens. Sie sind eine Schule des Wahrnehmens und Begreifens mit den Mitteln der Sprache, der Imagination und der Empathie.
Es ist eine (literarische) Reise, an die man sich noch lange Zeit später erinnern wird. Overath nimmt den Leser zu den tanzenden Derwischen nach Konya, ins rumänische Sulina, wo die Donau ins Schwarze Meer mündet, oder zu einer rätoromanischen Sprachgemeinschaft in den Schweizer Alpen. In ihrem Buch erzählt sie von legendären Reportern und zeigt uns, wie verschwistert Reisen und Schreiben sind. Mit dem sicheren Handwerkszeug ihrer Aufmerksamkeit begibt sich Overath in eine Metropole wie Istanbul oder entdeckt ein Wimpernhaar in einem Gedicht von Christine Lavant und einen verräterischen Farbtupfen in einem Gemälde von Rubens. Kurzum: Man nimmt Anteil an ihren Erlebnissen, und das sehr, sehr gerne.
Ein Geschenk in jedem Bücherregal - "Der Blinde und der Elephant" zeugt von einer Spitzenklasse, an die kaum andere Autoren heranzureichen vermögen. Angelika Overath ist ein Ausnahmetalent unter Deutschlands Schriftstellerinnen. Sie verfügt über eine unglaubliche Beobachtungsgabe. Wenn sie über Menschen schreibt, meint man als Leser, dabei zu sein und die Personen direkt kennenzulernen. Was sie schreibt, trifft ins Herz. Ihren "Geschichten" wohnt ein Zauber inne wie aus der Feder eines Hanns-Josef Ortheil. Und sie fesseln so sehr, dass man von der Welt um sich herum nichts mehr mitbekommt. Eine schönere Zuflucht vor dem Leben, zumindest für einen kurzen Augenblick, kriegt man viel zu selten in die Hände. Absolut grandios bis zum letzten Satz!
Die Bücher von Angelika Overath bedeuten Poesie der schönsten Form. Man liest diese und verliert sich mit allen Sinnen in Overaths Worten, Schilderungen und Gedanken. Wie kaum jemand sonst erschafft sie Bilder von größter emotionaler Intensität, ebenso Intimität. "Der Blinde und der Elephant" ist ein Juwel der Erzählkunst. Definitiv etwas ganz Besonderes. Zwischen zwei Buchdeckeln steckt Literatur, so verführerisch, dass man ihr partout nicht widerstehen kann und auch nicht möchte.
Susann Fleischer
18.02.2019