Dramen

Wenn die Realität dem Traum begegnet...

Schon die ersten Repliken des Theaterstückes "Das Einhorn und der Stier" von Gudrun Müsse Florin fesseln die Leser bzw. die Zuschauer und lassen sie bis zur Schlussszene nicht los. Dabei rückt die etwa 50 km östlich der Landeshauptstadt Stuttgart gelegene Stadt Schwäbisch Gmünd in den Vordergrund. Auf deren Stadtwappen, das zu den ältesten Stadtwappen Baden-Württembergs gehört, ist das mit Geheimnissen umhüllte Einhorn abgebildet. Nun wird das Wappentier durch den Stier in die Realität gelockt.

Das Stück besteht aus 3 Teilen, die miteinander sehr eng verknüpft sind. Die Handlung nimmt ihren Lauf, als der Stier das fremde, merkwürdige Wesen "mit nur einem Horn" entdeckt. Etwas distanziert und neugierig zugleich stellen sich das Einhorn und der Stier vor. Und schon gibt es erste Überraschungen: die Lebensweisen der beiden sind, wie es sich herausstellt, von Grund auf verschieden. Während der Stier mit seinen Verwandten auf der Suche nach Futter herumrennt und nie alleine ist, hat das Einhorn weder Hunger noch Verwandte. Sein Leben ist nun mal anders. Das Einhorn weist den Stier (und natürlich alle Leser) auf das Wappen von Schwäbisch Gmünd hin, fügt aber auch hinzu, dass sein richtiges Zuhause "die Welt der Träume" ist.

Schon während der Diskussion finden die beiden Hauptfiguren Gefallen aneinander, die Neugierde wächst mit jedem neuen Wort des Gegenübers. In die Unterhaltung der beiden Tiere lässt die Autorin auf kreative Weise die alten Mythen und Sagen Ägyptens oder zum Beispiel Irans einfließen. Darüber hinaus kommen auch biblische Bilder und Symbole, in denen die beiden Tiere eine zentrale Rolle spielen, zum Ausdruck. Im Laufe des spannenden Gesprächs lernen die Hauptfiguren viel voneinander und fühlen sich sehr bald trotz (oder auch wegen) ihrer Gegensätzlichkeit zueinander hingezogen.

Gudrun Müsse Florin gelingt es durchaus, einen Kontrast zwischen der Lebenskraft, dem Körperhaften des Stiers einerseits und des Traumhaften, des Nicht-Fassbaren des Einhorns andererseits herzustellen, aber auch dazulegen, wie gut sich die Eigenschaften ergänzen können.

In einfachen Worten, mit viel Humor und Ernst zugleich handelt das Theaterstück von ganz wesentlichen Fragen des Lebens. Das Werk erweist sich in unserer modernen hektischen Welt als sehr aktuell: als Erwachsener ist man in der Tat nicht mehr offen für viele schöne Dinge dieser Welt. Wir werden zu Realisten, setzen uns ganz bestimmte Ziele und streben danach – zum Träumen ist keine Zeit. Man wird praktisch zu Maschinen, leistungsstark, flexibel, aber ohne Gefühle, ohne Träume.

Das Werk lässt also nicht nur das Wappen der Stadt Schwäbisch Gmünd in einem völlig neuen Licht erscheinen, sondern spricht auch die wichtigen Aspekte unseres Lebens an. Durch den kunstvoll gestalteten Kontrast zwischen dem Konkreten und dem Seelischen und die daraus resultierende Problematik der Polarität legt das Werk nahe, was das Leben wirklich ausmacht. Erst im Einklang miteinander führen die beiden Pole zur Harmonie in unserem Tun und Denken.

Maria Dupeyenka
04.05.2015

 
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Das Buch:

Gudrun Müsse Florin: Das Einhorn und der Stier. Dialog zwischen dem Nicht-Fassbaren und dem Konkreten.

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Frankfurt: August von Goethe Literaturverlag 2015
63 S., 10,80 €
ISBN: 978-3-8372-1612-7

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