Dramen

Ein Theaterdramastück von großer Kunstfertigkeit

Ob es eine gute Idee ist, von Deutschland aus in dieses Schweizer Dorf auszuwandern? Den Verlust der Frau dadurch kompensieren, dass man, die neugeborene Tochter und die alte Großmutter im Gepäck, vom urbanen Flachland ins Hochgebirge flüchtet, zum Herkunftsort der Verlorenen? Der Trauer entgegenflüchten, sozusagen? Wo den Verstorbenen ein Platz vor dem Hauseingang freigehalten wird, wenn sie einmal jährlich mit dem "Gratzug" vorbeikommen? Nach dem Unfalltod der Mutter ziehen ein überforderter Vater mit der Tochter im Säuglingsalter und ihrer beherzten Urgroßmutter in den Heimatort der Toten, richten sich, argwöhnisch belauert von der Dorfgemeinschaft, in ihrem neuen Leben ein. Hier haben selbst die Häuser Augen, hier wird das Leben der Menschen durch jahrhundertealte Rituale zusammengehalten und Fremde sollen erst einmal Schweizerdeutsch lernen.

Wie es auf der Homepage des Schauspiels Leipzig zu Wolfram Hölls "Niederwald" weiterhin heißt: "Gute Idee oder nicht, jedenfalls tritt das trauernde Trio aus Wolfram Hölls neuestem Stück diese Reise an und wirft sich in eine geballte Fremdheitserfahrung, in der sprachliche Hürden noch die kleinsten Hindernisse sind. Ganz verloren der Vater, der nicht nur dem Dorfbewusstsein beweisen muss, dass ein alleinstehender Mann sich um ein kleines Kind kümmern kann; das Kind, das die Augen aufmacht, um den lauernden Häusern in dieselben zu schauen, die Oma, die durch Beharrlichkeit sich einen Platz auf der Bank erobert und dadurch symbolisch die soziale Anerkennung. Bei aller Sprachlosigkeit findet die kleine Trauergemeinschaft zu einem Miteinander durch Gesten, zur Begegnung im Angesicht der Sterne - und vielleicht wird am Ende nicht alles, doch manches gut."

Literatur, die einen so sehr fesselt, dass man von der Welt um sich herum nichts mehr mitbekommt - kein leichtes Unterfangen, aber eines, das dem deutschen Autor Wolfram Höll mit jedem seiner Theaterstücke gelingt; insbesondere aber mit "Niederwald". "Mit groteskem Humor, scharf gezeichneten Figuren, mitreißender Bildkraft und seinem eigenwilligen Erzählsound lässt Wolfram Höll eine magische Kulisse auferstehen, schildert die Geschichte der Überwindung von Trauer, erzählt von Integration und Ankommen in einer Welt, die von Überalterung und Klimawandel gezeichnet ist." So steht es auf der Buch-Website des herausgebenden Suhrkamp Verlages. Um Theater vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, braucht es Werke wie das von Höll. Es verleiht der Fantasie des Lesers Flügel. Oder bringt ihn zumindest dazu, sich mehr der Kultur zuzuwenden. Und das ist ohne Zweifel eine Großtat!

Dass es Verlag wie Suhrkamp Theater gibt, ist für zahlreiche Leser das größte Glück. Hier erhalten Werke zeitgenössischer Theaterautor:innen neben der Uraufführung auf der Bühne einen zweiten Auftritt in Buchform. Die Idee dieser Reihe ist es, Texte, die fürs Theater entstanden sind, auch als Lesetexte vorzustellen - als Buch, das man gerne in die Hand nimmt, aufschlägt, los liest. Eines davon ist Wolfram Hölls "Niederwald". Diese Publikation ist ein Musterbeispiel für Dramenkunst vom ersten bis zum letzten Satz. Ein bisschen wie ein Shakespeare-Stück in der modernen Zeit.

Susann Fleischer 
10.06.2024

 
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Das Buch:

Wolfram Höll: Niederwald

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2024 184 S., € 20,00 ISBN: 978-3-518-43181-8

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