Briefliteratur & Tagebuch

Briefe, so fesselnd wie ein Roman

Ausgezeichnet unter anderem mit dem Büchnerpreis, Bremer Literaturpreis, Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, und Weilheimer Literaturpreis zählt Wolfgang Hildesheimer zu Deutschlands Topautoren. Aber auch als Maler war der gebürtige Hamburger höchst erfolgreich. Seine Bücher und Collagen sind auch nach seinem Tod 1991 ein wichtiger Teil der (Kunst-)Welt, ebenso wie die Briefe an seine Eltern. Diese sind nun in einem Sammelband unter dem Titel "»Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts«" im Suhrkamp Verlag erschienen und sorgen ohne jeden Zweifel für ähnlich große Furore wie Hildesheimers Prosawerke und Theaterstücke.

Selbst guten Kennern von Wolfgang Hildesheimers Leben und Werk war und ist weitgehend unbekannt, was genau ihn beschäftigte, bevor er 1950, scheinbar aus purem Zufall, zu schreiben begann und umgehend literarische Erfolge feierte. Hildesheimers Briefe an die Eltern, eine erstklassige Quelle, erhellen nicht nur das Dunkel dieser Frühzeit, sondern auch seine weitere, bislang weitgehend unbekannte Entwicklung. Beginnend mit einer Schiffsreise des angehenden Studenten nach London 1937 und endend mit dem Tod der Mutter 1962, bieten die erhalten gebliebenen 507 Briefe ein so aufschlussreiches wie aufregendes Tagebuch in Briefform über einen Zeitraum von 25 Jahren.

Wichtige Stationen sind das Studium in England, der Aufenthalt in Palästina während des Weltkriegs, die Tätigkeit als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen und der Weg ins Rampenlicht der deutschen Literaturszene als Autor und Übersetzer. In diesen Briefen spiegelt sich aber auch eine Epoche großer politischer Umwälzungen sowie tiefgreifender Entwicklungen in der internationalen Kultur und Kunst, die Hildesheimer als bildender Künstler aufmerksam verfolgte und denen er wichtige Impulse für sein schriftstellerisches Werk verdankte. Auch katapultiert er Literatur hier auf ein neues Level. Hildesheimer schreibt auf einen Niveau wie nur die wenigsten seiner Autorenkollegen.

Seltener kann man einen so expliziten Einblick in das Leben des Ausnahmekünstlers Wolfgang Hildesheimer werfen und sich dabei auch noch so grandios unterhalten fühlen dürfen. "»Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts«" bringt den Leser zum Staunen. Die Schriftstücke sind jedes für sich ein Dokument des flüchtigen Augenblicks und zugleich der damaligen Zeit. Sie wirken wie Hildesheimers Collage: alles durcheinander und doch zu einem einzigartigen Gesamtbild zusammengefügt. So wird diese Briefsammlung zu einem Juwel von ungeahnter Schönheit in jedem Bücherregal. Danke für dieses, vor allem an Volker Jehle.

Der Literaturwissenschaftler ist einer der besten Kenner von Hildesheimers Werk, Editor und Monograph des Autors. Er hat sämtliche erhaltene Briefe chronologisch geordnet und die ihnen zugrunde liegenden biographischen Fakten und Ereignisse in akribischer Recherche ermittelt. Gelungen ist ihm eine Schatzkiste voller (nicht nur sprachlich) funkelnder Diamanten. Einfach nur wow, wow, wow!

Susann Fleischer
02.01.2017

 
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Das Buch:

Volker Jehle (Hg.): Wolfgang Hildesheimer: »Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts« - Die Briefe an die Eltern

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Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
1584 S., € 78,00
ISBN: 978-3-518-42515-2

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