Briefliteratur & Tagebuch

Aus dem Tagebuch des "Napoleon des Verbrechens"

Mit der Figur des Sherlock Holmes schuf Sir Arthur Conan Doyle Ende des 19.Jahrhunderts den wohl berühmtesten Detektiv der Literaturgeschichte. Sicherlich gab es mit Jules Maigret, Hercule Poirot oder Miss Marple ähnlich prominente Vertreter ihres Genres, doch hatte mit Sherlock Holmes einer das Parkett betreten, der mit seiner analytischen Vorgehensweise und seinem scharfen Verstand einen neuen Prototypen des Detektivs verkörperte, an dessen Arbeit sich in der Folgezeit viele seiner Kollegen orientieren sollten.

Einer von Holmes' schärfsten Widersachern war Professor James Moriarty, der sogenannte "Napoleon des Verbrechens". In mehreren Romanen aus der Feder Doyles kreuzen sich ihre Wege und Klingen. Berühmt und legendär wurde dabei vor allem ihr Auftritt in "Das letzte Problem", als sich beide über den Reichenbachfällen im schweizerischen Meiringen handgreiflich duellierten, gemeinsam in die Tiefen der Schlucht hinabstürzten und den Tod fanden. Doyle hatte mit dieser Episode das Ende seiner Romanfigur Sherlock Holmes geplant, jedoch war der Protest seiner Leserschaft derart überwältigend, dass er Holmes mit einer entsprechenden Erklärung untermauert den Vorfall nachträglich unbeschadet überstehen ließ.

Das vorliegende, toll aufgemachte Büchlein aus dem Eichborn-Verlag ist eine Zusammenstellung von Aufzeichnungen aus Moriartys Tagebüchern. Dessen rechte Hand, Colonel Sebastian Moran, hatte die Unterlagen nach dem Verschwinden Moriartys einem Verleger zugespielt, um aus den Einnahmen sein lukratives Leben finanzieren zu können. Aus den Unterlagen geht Sensationelles hervor, nämlich dass nahezu alle Fälle Sherlock Holmes' von Moriartys langer Hand vorbereitet waren und Holmes als Marionette Moriartys agiert hatte, dabei allerdings meist nur per Glück und Zufall die Fälle vordergründig zur Lösung führen konnte.

Die Lektüre der chronologisch ungeordneten und mit einigen Kommentaren Morans versehenen Aufzeichnungen des "Napoleon des Verbrechens" ist ein köstlicher Spaß für jeden Freund von Sherlock Holmes und Dr. Watson. Herrlich sind die Schimpftiraden Moriartys nachzulesen, in denen er wahlweise Doyle, Holmes und Watson als Schufte, Dilettanten oder Versager tituliert. Dabei lässt sich eine unbewusste Selbstironie Moriartys nicht leugnen, muss er doch schließlich oft genug Niederlagen eingestehen, die er aber keineswegs Holmes zu Ehren gereichen lässt, sondern stets sind es andere, meist aus der Schar seiner Handlanger und Schergen, die den Erfolg so vieler Unternehmungen durch ihre Inkompetenz vereitelt haben.

Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit in das vorliegende Büchlein, in der man sich als Leser in die Machart des Werkes hineinversetzen muss, findet man ein sehr kurzweiliges Vergnügen vor. Den Wust an Informationen sowie die zeitliche Unordnung muss man schlicht akzeptieren, denn es geht hier nicht darum, die Geschichte des Professor Moriarty nachzuerzählen, statt dessen sind es Momentaufnahmen der Begegnungen zwischen Holmes und Moriarty, die aus der Perspektive des letzteren einen ganz neuen Betrachtungswinkel auf das Schaffen des größten Meisterdetektivs aller Zeiten liefern.

Der Leser amüsiert sich über die Eigenständigkeit, die die von Doyle geschaffene Figur des James Moriarty erlangt hat. Wüst beschimpft er seinen und Holmes' Schöpfer und gelangt dabei zu einem Eigenleben, das nicht mehr unter der Regie Doyles Kontrolle findet. So setzt Moriarty sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen auch über seinen eigenen, von Doyle beschlossenen und niedergeschriebenen Tod bei den Reichenbachfällen hinweg. Weniger geistig, dafür aber körperlich größtenteils unversehrt lässt Moriarty den Leser wissen, wie er diese prekäre Situation gemeistert hat und sich in der Folgezeit davon berappelt hat.

"Die Wahrheit über Sherlock Holmes" ist ein Riesenspaß für alle Freunde von Sherlock Holmes, da es eine erweiterte Sicht auf die Vorgänge liefert, die sich rund um Baker Street 221b abgespielt haben. Kaum einer wird zukünftig bei Doyles Romanen die aus diesem Büchlein erlangten Hintergrundinformationen über Holmes, Watson oder Lestrade vollständig ausblenden können.

Christoph Mahnel 
02.01.2012

 
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Das Buch:

James Moriarty: Die Wahrheit über Sherlock Holmes. Aus den Unterlagen seines Erzrivalen zusammengestellt von Colonel S. Moran. Aus dem Englischen von Edith Beleites

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Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2011
155 S., € 12,95
ISBN: 978-3-8218-3688-1

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