Briefliteratur & Tagebuch
Briefliteratur auf höchstem Niveau
Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger haben sich im Wien der Nachkriegszeit kennengelernt. Zwei Frauen im männlich dominierten Literaturbetrieb, von unterschiedlicher Herkunft, mit grundlegend verschiedenen Erfahrungen in der NS-Zeit und mit gegensätzlichen Lebensentwürfen werden die bedeutendsten österreichischen Autorinnen nach 1945. Trotz der unvermeidlichen literarischen Konkurrenzsituation versuchen sie, ihre Freundschaft aufrechtzuerhalten. Ihre Korrespondenz aus den Jahren 1949 bis 1962, in die auch Günter Eich als Ehemann Aichingers einbezogen ist, dokumentiert diesen prekären Versuch in rund 100 Briefen - 30 von Bachmann, 74 von Aichinger und Eich.
Der auffallend familiäre Ton wird von Aichinger vorgegeben. Für sie, die nahe Verwandte durch die Shoah verlor und in Wien der Verfolgung ausgesetzt war, blieb die Familie das größte zu schützende Gut, in der Bachmann als "dritter Zwilling" und als "kleine Schwester" Günter Eichs ihren Platz erhält. Dass diese Freundschaft trotz aller Bemühungen scheiterte, gehört zur Tragik, die sich in diesem Briefwechsel verbirgt und nur selten hervorbricht, in einem "Suchen, grundlos, krankhaft, nach dem Grund des Ausbleibens jeder Nachricht [...] mit dem Wunsch um ein Wort".
Dass Briefe durchaus Literatur auf höchstem Niveau sein kann, beweist die "Salzburger Bachmann Edition", erschienen im Suhrkamp Verlag, auf beeindruckendste Art und Weise. Diese bringen nicht nur den Menschen auf persönlicher Ebene dem Leser näher, sondern sind zugleich ein Spiegel der damaligen Zeit sowie Gesellschaft. Die Lektüre von "»halten wir einander fest und halten wir alles fest!«. Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann - Ilse Aichinger und Günter Eich" ist außerdem absolut berauschend. Hier erfährt man nämlich Unterhaltung, die fesselt und darüber hinaus begeistert, weil sie ein Stück Zeitgeschichte dem Leser vermittelt. Was für ein Geniestreich!
Ein Genuss von großer Seltenheit im Bücherregal - sämtliche Veröffentlichungen des Suhrkamp Verlages, so auch und vor allem die vorliegende, kann man als etwas Besonderes bezeichnen, und zwar im positivsten Sinne. Denn diese begleiten einen für deutlich länger als einen Lesenachmittag oder -abend lang. "»halten wir einander fest und halten wir alles fest!«. Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann - Ilse Aichinger und Günter Eich", herausgegeben von Irene Fußl und Roland Berbig, macht ganz schwindelig, haut einen glatt vom Hocker. Es gibt nichts Besseres zu lesen, zumindest was Briefe betrifft.
Susann Fleischer
10.01.2022