Ratgeber

Kein Gehirn in der Welt , in dem es nicht von Gedichten wimmelt

Thalmayrs Schreibweise hat etwas Dadaistisches an sich. So wie er "vom Leder zieht", den Regelunterricht und speziell den rezeptiv-analytischen Umgang mit Lyrik im Deutschunterricht ebenso kategorisch ablehnt wie den Wissenschaftsdiskurs, der glauben macht, Gedichte seien etwas ganz Besonderes, etwas f?r Eingeweihte ? Und wie er eine "Anti"-Leserschaft anzusprechen sucht, n?mlich gerade all jene Nicht-Eingeweihten, alle, die noch immer sauer sind auf die in der Schule verlorene Zeit und erst recht alle akut Genervten zwischen zw?lf und zwanzig ?

Daher das eindringliche Signal auf dem Cover: Lyrik nervt, so der Haupttitel des vorliegenden Buches, gedruckt auf ein rotes Kreuz vor wei?em Grund, eingefasst mit schwarzen Linien. Eben eine Art Medizinschr?nkchen. Es ist gut sortiert und enth?lt im Grunde genommen alle wichtigen "Lyrikpr?parate", die bereits vor fast zwanzig Jahren mit Erscheinen der Thalmayrschen Wasserzeichen der Poesie, einem hochgelobten und viel gelesenen Lyrikratgeber f?r Erwachsene, bekannt wurden ? und noch mehr!

Der Autor greift nach der ersten und wichtigsten Arznei: Es gibt ?berhaupt kein Gehirn in der Welt, in dem es nicht von Gedichten wimmelt. Er erinnert weiterhin daran, dass jedwede Dichtung einen Bezug zur Realit?t hat, mehr noch dass sie in Austausch mit einer unmittelbar verst?ndlichen Lyrik des Alltags steht, die im kollektiven Ged?chtnis fest verankert ist. V?llig abwegig also die leider g?ngige Meinung, auch ganz gut ohne Lyrik auskommen zu k?nnen. In diesem Punkt bezieht Thalmayr dezidiert Stellung, ansonsten aber kommt er jungen Versver?chtern in jeder erdenklichen Weise entgegen. Der Experte verbiegt sich f?rmlich (oder ist dies nur die bereits "intellektuell verdorbene" Sichtweise des Erwachsenen?), um seiner Forderung nach weniger Theorie, mehr Intuition Ausdruck zu verleihen.

Er bedient sich der Jugendsprache, zieht alle Register von l?ssig-cool ?ber assoziativ-bildhaft bis spontan-ungenau (so z. B. seine vordergr?ndige Erkl?rung, warum die lateinische Dichtung ohne Reime auskam, oder sein Zwiespalt, was die Anwendung von Fachtermini und Regeln betrifft), wenn er die St?rken, vor allem aber die Schw?chen lyrischer Texte offen legt. Provokativ, ja respektlos stellt er Ausrutscher neben Meisterst?cke, munteres Gequassel neben Zauber und Magie, Schepperndes neben Melodisches ? und leistet so ein St?ck weit Lyrikgeschichte auf die unterhaltsamste Art und Weise. Nach der Lekt?re hat man dann immerhin eine Ahnung davon, warum einen bislang manches an der Lyrik st?rte (Gute Gedichte, freier Vers hin oder her, waren immer schon eine Seltenheit, und immer schon war das Risiko gro?, da? die Verfasser sich blamierten) und warum gewisse eigene Fehleinstellungen den Zugang zu den wahren K?nnern erschwerten oder gar verwehrten (Wer sich aber nicht mit der ?u?eren Schale zufriedengibt, den belohnt das Gedicht, vorausgesetzt, es hat?s in sich, mit einer ?berraschung).

Wer infolge ersten Umdenkens ungeahnte poetische Kr?fte in sich erwachen sp?rt, darf sich im letzten Kapitel getrost noch eine "Mutmach-Spritze" f?r erste eigene Experimente geben lassen. Eine schwach dosierte Spritze wohl bemerkt. Ihre Substanzen: einige g?ngige Spielformen und M?glichkeiten der Texttransformation.

Dr. Gudrun Daul
03.10.2004

 
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Das Buch:

Andreas Thalmayr: Lyrik nervt! Erste Hilfe für gestresste Leser

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München, Wien: Carl Hanser Verlag 2004
120 S., € 12,90
ISBN: 3-446-20448-2

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