Autobiographie

Die Münchner Justiz - der eine große Fluch

Sie sei ihm die höchste aller denkbaren Korruptionen, zitiert Karl-Heinz Seidl den Philosophen Nietzsche, bezogen auf die Münchner Justiz. Und: "Ich heiße die Münchner Justiz den einen großen Fluch ..." Das Ganze ist eine 373 Seiten umfassende harte Anklage, die wie ein Fehdehandschuh in die Öffentlichkeit und vor allem vor die Füße der Richter geworfen wird. So darf man sich auf ein streitbares, messerscharf geschriebenes Stück gefasst machen, wenn man Seidls "Kriminalgeschichte der Münchner Strafjustiz" zur Hand nimmt.

Seidls Tätigkeit konzentriert sich seit den Siebzigern auf die Strafverteidigung. Hier kennt er sich aus, hier hat er auch - wie im Klappentext bestätigt wird - seinen Kampfgeist erprobt. Tatsächlich erscheint er in diesem Buch, aus dem er auch schon öffentlich vorgelesen hat, als engagierter Jurist. Ihm geht es bei all seiner Kritik an der Justiz um das Ideal der Gerechtigkeit - ein Idealist im Getümmel der Prozesse. In seinem Vorwort macht er gleich eingangs deutlich, dass auch er einseitig und subjektiv einschätzt und wertet. Aber er gehört wohl - wie einer der besten Richter, die er im Buch zitiert, nämlich Urban vom Landgericht München I - zu jenen, die sich der Objektivität annähern, des Rechts zuliebe. Erlebt hat er anderes: Man hat ihn verfolgt, geplagt und dreimal verhaftet.

Das Buch liest sich wie ein Abenteuerroman, der sich als Wirklichkeit entpuppt. Es steckt böse Realität hinter dem, was Seidl detailtreu und gut belegt darzustellen weiß. Man kann sich bei der Lektüre allerdings entscheiden: Will man wirklich die ungezählten Einzelheiten aufnehmen, die Seidls harte Kritik an der Justiz Schritt für Schritt belegen, oder will man die Grundkritik herauslesen. Zu Letzterem gehört etwa der Hinweis auf die vielen Staatsanwälte des berüchtigten Volksgerichtshofs, die nicht nur nicht eingeklagt, sondern vielmehr in die Justiz der Bundesrepublik übernommen wurden. Alfred Münich beispielsweise sei Senatspräsident geworden, und dies am Oberlandesgericht München, und Hans-Dieter Arndt, seinerzeit Richter am Volksgerichtshof, kam in Koblenz zu gleichen Ehren. Dies alles ist nicht neu, berührt einen dennoch immer wieder aufs Neue. Man nehme das Buch und spaziere damit durch eine der vielen Geschwister-Scholl-Straßen der Republik.

Vieles stimmt prinzipiell nicht, was den Autor zur Formulierung verschiedener Reformforderungen führte. Das gilt nicht nur für die Menschenkenntnis, die bei der Wahl der Richter zur Anwendung kommen sollte, sondern auch für die Grundeinstellung: Bei der Justiz sollte es nicht um Privilegien gehen, sondern um Menschen, um Verurteilung oder Freispruch. Seidl achtet sehr genau auf die Sprache. Wenn irgendwo festgehalten wird, dass das Amtsgericht sowieso für die "Aburteilung" zuständig sei, dann korrigiert er dies: Das Gericht sei zuständig zur Verhandlung über die Anklage, nichts weniger und nichts mehr.

Seidl erwähnt selber den Begriff "Verbitterung" und meint die eigene Schreibhaltung. Man kann sie kaum überlesen, diese Verbitterung, die sich streckenweise wie Hohn über die Münchner Justiz ergießt. Man sieht Daumiers Hohnfratzen vor sich, die den Justizapparat als derart lächerlich erscheinen lassen, dass man schon fast ein Bühnenstück vor sich liegen glaubt. Das schmälert keineswegs den Wert dieses anspruchsvollen Buches, im Gegenteil: Wir haben einen Juristen vor uns, der sich nicht in theoretische Elfenbeintürme versteigt, sondern einen, der für das Gute im Recht - an das er trotz übler Erfahrung glaubt - hartnäckig kämpft.

Ronald Roggen 
05.09.2011 

Eine Lesung aus diesem Buch finden Sie hier: 
http://autoren-tv.de/vorschaltseiten/seidl_intro.html

 
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Das Buch:

Karl-Heinz Seidl: Eine Kriminalgeschichte der Münchner Strafjustiz

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Frankfurt am Main: August von Goethe Literaturverlag 2011
374 S., € 27,80
ISBN: 978-3-8372-0921-1

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