Autobiographie

Menschen der Mitte

Das war wirklich nicht als Aprilscherz gedacht! Am 1. April 1945, Ostersamstag, wurde Klaus F. Messerschmidt getauft. Es ergab sich so: Die anrückenden Amis quasi vor der Tür, drängten Charlotte und Willy, die lieben Eltern. Aus dem Täufling ist was geworden. Einer, der sich hinsetzte - und tatsächlich das Sitzfleisch hatte -, um als Schriftsteller die Chronik seiner Sippe zu schreiben. Ein Optimist eben! Als den gibt er sich zu erkennen, noch eh sein Buch "Das sprechende Auge" mit einem "Vorspiel" beginnt. Sofern nicht das gesamte Buch ein Vorspiel zum kommenden Buch ist, das dann die ganze Geschichte des KFM erzählt. Zumindest steuert alles darauf hin. Das vorliegende Buch endet mit einem "Knappen Nachwort und kurzer Vorrede". Dem Verfasser vertrauen und auf Nummer Zwo warten? Wieso nicht?

Das Buch beginnt mit einer brachialen Zeugung im Frühjahr 1853. Es endet gut ein Jahrhundert später, als Klein-Klaus zum Zeitzeugen sozialistischer Schulbildung wird. Grob geurteilt ist "Das sprechende Auge" eine knappgefaßte Familienchronik, die von der Mitte eines Jahrhunderts in die Mitte des folgenden Jahrhunderts reicht. Welch eine Chronik! Welch eine Zeit! Welch ein Stoff! Ein Glücksfall, dass sich Klaus F. Messerschmidt des Stoffs annahm. Er hat ihn nicht verschnitten. Was Wunder, schließlich gabs in der Sippe ein tapferes Schneiderlein. Überhaupt: Von Generation zu Generation sind die Messerschmidt/Ahlsdorf mehr oder minder geschickte, also erfolgreiche Handwerkersleute, die ihr Leben bevorzugt in der Südharzstadt Sangerhausen gelebt haben. Alles spricht für Solidität im Beruflichen wie der Bodenständigkeit. Apropo Sangerhausen: Da werden kundige Kunst- und Literaturfreunde hellwach. Ist das nicht die Einar Schleef-Stadt? Es ist so! Zweimal geraten die Schleefs ins Gerede. Nicht nur vorteilhaft. So ist's, wenn Nachbarn über Nachbarn reden, wenn man sich über Landschaft und Leute eines Kiez' hermacht.

Der Autor schont nichts und niemand. Als literarischer Chronist hat er alle Freiheiten. Messerschmidts Souveränität im Schreiben macht sein Buch zu der Lektüre, die nie langweilt. Die Chronik hat eine vom Autor geprägte literarische Qualität. Die aufgekommene Skepsis, dadurch geweckt, dass sich das Buch selbst als "Literarische Autobiografie" empfiehlt, wird Seite für Seite begraben. Unabhängig der Tatsache, dass der autobiographische Teil des KFM eher Ankündigung denn Ausführung ist. Gewichtiger ist der Untertitel "Lebenslauf Deutsch". Es sind ausschließlich deutsche Lebenslinien. Sie verlaufen, geradezu im Kreisverkehr, im mitteldeutschen Raum. Gesammelte deutsche Heimatgeschichte also, die nicht abgeschirmt ist von den Wirrnissen deutscher Weltmachtansprüche. Der Autor pflegt den persönlichsten Umgang mit der deutschen Geschichte, indem er sie in den privaten Geschichten der Familienmitglieder sichtbar macht. Anschaulicher als gestandene Historiker in ihren Wälzern. Geschichte ist als Erlebnis der Geschichten der Menschen der Mitte zu erleben.

Messerschmidts Art der Darstellung ist, auch in der Literatur, nicht neu. Neu sind nicht die Einsprengsel, also die Zitate aus Selbstzeugnissen, Zeitungen oder des Volksmunds. Neu ist nicht die satirisch-ironische Haltung des Schreibers, die seinem Buch den literarischen Glanz gibt. Nicht erst, wenn die Leser durch die Zeiten des Dritten Reiches streifen, ist unentwegt an Michail Romms "Gewöhnlicher Faschismus" zu denken. Der Schriftsteller ist ein gescheiter geistiger Bruder des russischen Dokumentaristen. Auch Messerschmidt macht aus Dokumentierten ein Kunstwerk. Er hat die Sprache, die nicht nur Plattes plätschern läßt. Die Sprache reflektiert menschliche Geschicke und historische Ereignisse, so dass selbst Harthörige hellhörig werden. Durch den Autor aufmerksam gemacht, ist es kaum möglich, beim Lesen von "Das sprechende Auge" unaufmerksam zu werden.

Bernd Heimberger
20.12.2010

 
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Das Buch:

Klaus F. Messerschmidt: Das sprechende Auge. Lebenslauf Deutsch

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Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2010
352 S., € 24,90
ISBN: 978-3-89812-730-1

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