Autobiographie

Aus den Erinnerungen eines Mitglieds der jüdischen Getto-Polizei

Gut 70 Jahre sind inzwischen vergangen und doch kann Anatol Chari ihn nicht vergessen - jenen Tag, der sein und das Leben aller polnischen Juden für immer grundlegend verändern sollte: der 1. September 1939. An diesem Freitag marschierten die Deutschen in Polen ein und läuteten damit den Zweiten Weltkrieg und eine Zeit des Mordens ein. Über sechs Millionen Juden wurden während des Holocausts getötet. Nur wenige überstanden die Zeit in den Gettos und Konzentrationslagern, um der Nachwelt davon erzählen zu können - einer von ihnen ist Anatol Chari, der in "Undermensch" von sechs Jahren Angst und Schrecken berichtet.

Chari ist erst 16, als er mit ansehen muss, wie sein Vater, ein Ratsmitglied der jüdischen Gemeinde, von den Deutschen abgeführt wird. Lange Jahre hoffte er, ihn eines Tages wiederzusehen, aber diese Hoffnung wird bitter enttäuscht - wie er sich Jahre später eingestehen muss. Damit beginnt für Chari ein neues Leben, das sich zunächst als gar nicht so furchtbar darstellt: Die Familie wird enteignet und ins Getto von Lodz geschickt. Und Chari hat Glück: Durch die Beziehungen seines Vaters wird Chari Mitglied der jüdischen Getto-Polizei. Diese genießt aufgrund ihrer verantwortungsvollen Arbeit allerlei Privilegien, wird von den anderen Gettobewohnern allerdings abgrundtief gehasst. Für Chari kein Problem, Hauptsache er kommt an genügend Essen heran - ein Umstand, der ihm noch das Leben retten sollte.

Für Chari wendet sich das Blatt, als 1944 das Getto aufgelöst wird und seine Bewohner nach Auschwitz deportiert werden. Während der eine Teil direkt in die Gaskammern geschickt wird, kommt Chari in die Gruppe der "Arbeitsfähigen". Im Gegensatz zu vielen seiner einstigen Kameraden ist Chari noch so kräftig und gesund, dass er sein Dasein als Zwangsarbeiter in diversen Konzentrationslagern (u.a. Groß-Rosen und Bergen-Belsen) fristen muss. Nicht nur die unmenschlichen Bedingungen machen ihm zu schaffen, sondern auch sein Absturz von der privilegierten Schicht im Getto zur untersten im KZ. Und doch hat das Glück Chari nicht verlassen, denn er ist einer der Wenigen, der das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte und andernorts neu beginnen konnte - in Charis Fall als Zahnarzt in Kalifornien.

In "Undermensch" erzählt Anatol Chari - ein (polnischer) Jude unter vielen - seine ganz persönliche Geschichte. Im Gegensatz zu anderen Autobiographien steht nicht Charis Gefühlswelt im Mittelpunkt der Betrachtungen, sondern seine nüchterne Darstellung des Versuchs eines normalen Lebens im jüdischen Getto. Chari führt dem Rezipienten sechs grausame Jahre der Verfolgung und des Mordens vor Augen - ungeschminkt, sehr direkt und mit einer leisen Spur unverhohlener Selbstkritik.

Anatol Chari ist eine jener Stimmen, die wegen ihrer schonungslosen Offenheit von allen Gesellschaftsschichten - von rebellischen Jugendlichen bis hin zu gebildeten Akademikern - erhört wird. Damit gelingt ihm eine eindrucksvolle Leistung: Er sensibilisiert seine Mitmenschen für einen Teil der Geschichte, den viele lieber totschweigen würden, und hält so das Andenken der im Holocaust ermordeten Juden aufrecht - ein ehrendes Anliegen, das jeden von uns betrifft.

Susann Fleischer
18.01.2010

 
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Das Buch:

Anatol Chari und Timothy Braatz: "Undermensch". Mein Überleben durch Glück und Privilegien. Aus dem Englischen von Franka Reinhart

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München: dtv 2010
240 S., € 14,90
ISBN: 978-3-423-24770-2

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