Medien & Gesellschaft
Pearce , Waddle , Southgate & Co.
Es reduziert den Fußball auf seine einfachsten Bestandteile: ein Ball, ein Schütze, ein Torwart und ein Tor, dazwischen 10,9728 Meter. Elfmeter, Strafstoß oder Penalty genannt. Die Aufgabe des Schützen ist es, den Ball im Tor unterzubringen, die des Torwarts, dies zu verhindern. Was so einfach klingt, ist aus Sicht des Schützen mit einer unerhört psychischen Belastung verbunden. Schließlich erwartet doch jeder, dass der Schütze seine Aufgabe erfolgreich erledigt. Während der Schütze also praktisch nur verlieren kann, besitzt der Torwart die Chance, als Held aus diesem Duell hervorzugehen. Doch hat die Geschichte des Fußballs gezeigt, dass oftmals selbst die allergrößten Kicker an dieser simplen Aufgabe scheiterten.
Der englische Journalist Ben Lyttleton hat dem Elfmeter ein ganzes Buch gewidmet. Das englische Original namens "Twelve Yards" firmiert für die soeben im Göttinger Werkstatt Verlag erschienene deutsche Ausgabe selbstredend unter "Elf Meter", obgleich die exakte Distanz aufgrund der Umrechnung ins metrische System um gut zwei Zentimeter verfehlt wird. Lyttleton verfügt nicht nur über hervorragende Kontakte zu Spielern und Torhütern, die an legendären Elfmetern und Elfmeterschießen beteiligt waren, sondern ist darüber hinaus auch noch Geschäftsführer einer auf Fußball spezialisierten Unternehmensberatung. Aus dieser Warte heraus liefert er im vorliegenden Buch hochinteressante Einblicke in eine moderne und professionelle Vorbereitung auf Elfmeter. Lehmanns Zettel lässt grüßen!
Zu Beginn widmet sich Lyttleton als Engländer zunächst einmal den Elfmetern aus seiner nationalen Perspektive heraus und kommt dabei - wen wundert's - zu der Erkenntnis, dass es sich beim Elfmeterschießen um eine englische Krankheit handelt. Keine andere Nation hat öfter und tragischer versagt, wenn wichtige Weltmeisterschafts- und Europameisterschaftsspiele in der K.O.-Phase vom Punkt entschieden werden mussten, als die Engländer. Hierzulande wird einem natürlich bei Namen wie Stuart Pearce und Chris Waddle, die gegen Beckenbauers spätere Weltmeister im WM-Halbfinale 1990 scheiterten, ganz warm ums Herz. Ebenso ist einem noch in Erinnerung, wie kläglich Gareth Southgate seinen Elfer gegen Andreas Köpke im legendären 96'er Halbfinale in Wembley versemmelte. Die Liste englischer Dramen ließe sich noch weiter fortsetzen. Doch Lyttleton kommt im vorliegenden Buch dem Phänomen des englischen Scheiterns bei seiner stark zahlen- und faktenbasierten Analyse auf den Grund.
Die deutsche Nationalmannschaft hat unter den großen Nationen im Weltfußball die besten Ergebnisse vom Elfmeterpunkt erzielt, sieht man einmal von Uli Hoeness' Fehlschuss anno 1976 im EM-Finale gegen die Tschechoslowakei ab. Auch diesbezüglich hat sich Lyttleton auf Spurensuche begeben und interessante Erkenntnisse zu Tage gefördert. Dabei versteht der Autor es sehr gut, den Leser gleichermaßen zu informieren wie auch kurzweilig zu unterhalten. Neben der ausführlichen Schilderung nahezu aller bedeutsamen Elfmeterschießen der Fußball-Historie, lässt er zahlreiche Protagonisten zu Wort kommen und greift bei gegebenen Anlässen immer wieder auf seine scheinbar unerschöpflichen statischen Analysen zurück. Wieviel Zeit sollte sich der Schütze bei der Ausführung lassen? Sollte er Blickkontakt mit dem Torwart meiden oder suchen? Welchen Bereich des Tores sollte er anvisieren? Sollte er besser seine natürliche Ecke, also links beim Rechtsfuß bzw. rechts beim Linksfuß, wählen oder sich dagegen entscheiden? Auf alle Fragen kann Lyttleton fundierte und mit statistischen Erhebungen belegte Antworten geben.
Das Titelbild von "Elf Meter" ziert den Rasen des Rose Bowl Stadions in Pasadena mit einem auf den Knien jubelnden Cláudio Taffarel und einem die Hände in die Hüften gestemmten Roberto Baggio, der gerade den alles entscheidenden Elfmeter im WM-Finale 1994 in die Wolken gejagt und damit unfreiwillig Brasilien zum Weltmeister gemacht hat. Am Ende eines jeden Kapitels bringt Lyttleton in seinem Buch dem Leser sogenannte Elfmeter-Ikonen näher, zum Teil auch solche, die es nicht nachhaltig in das Bewusstsein des gemeinen Fußballfans geschafft haben. Darunter sind ein Engländer, mit dem die "Three Lions" garantiert so manches Elfmeterschießen hätten erfolgreich gestalten können, ein Argentinier, der es fertig brachte, in einem einzigen Länderspiel sage und schreibe drei Elfmeter zu verschießen, ein Russe, der angeblich einen Elfmeter mit dem Kopf verwandelte, und eine Amerikanerin, die nach ihrem Elfmeter erfolgreich Werbung für den Sport-BH betrieb. Kurzum, Ben Lyttletons "Elf Meter" ist ein höchst unterhaltsames Kompendium über den Strafstoß und lässt keine Wünsche offen.
Christoph Mahnel
26.05.2015