Medien & Gesellschaft

Was ist denn schon "Normalität"?

Die Vorstellungen der westdeutschen Bevölkerung bezüglich des Lebens der Ostdeutschen beschränkten sich nach dem Fall der Berliner Mauer auf Repression seitens des Staates. Der Alltag sei geprägt durch Bespitzelung, Unterdrückung der Individualität und Ängsten bezüglich der ungewissen Zukunft, dies entsprach aber keineswegs der Realität und die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik konnten sehr wohl ein gewöhnliches Leben führen. So empfand ein Großteil der Bevölkerung sein Leben als interessant, abwechslungsreich und voller verschiedener Möglichkeiten hinsichtlich Freizeit, Ausbildung und beruflicher Zukunft. Diesem Phänomen geht die Professorin für Deutsche Geschichte Mary Fulbrook in ihrem Buch "Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR" nach. Es beschreibt, wie die meisten Ostdeutschen von der Entstehung des totalitären Staates im Jahre 1949 bis zu seinem Zusammenbruch 1989 in der DDR lebten.

Gesellschaft, Klassen und partizipatorische Diktatur

Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert, die sich näher mit der Unterscheidung zwischen "Staat" und "Gesellschaft" beschäftigen. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Visionen einer besseren Zukunft und der tatsächlichen Situation. Es werden Themen wie Freizeit, Wohnung, Gesundheitswesen und Jugend behandelt. Die Situation der DDR-Bürger war nicht einfach zu bewältigen. So herrschte aufgrund der Bombardierungen besonders zu Ende des Zweiten Weltkrieges Wohnungsknappheit. Um dem Abhilfe zu schaffen, entstanden die sogenannten Plattenbauten. Eine Wohnung sah aus wie die andere. Lediglich die Inneneinrichtung zeichnete sich durch Individualität aus. Aber selbst wenn man eine Wohnung für sich beanspruchen konnte, hieß dies noch nicht, dass diese mit dem Komfort der heutigen Zeit (z. B. Warmwasser, Toilette und Bad) ausgestattet war. Die einzige Möglichkeit hieß: sich arrangieren. Die Freizeit gestaltete sich auf vielfältige Weise: Man traf sich mit Freunden, ging ins Kino, las ein gutes Buch oder setzte sich vor den Fernseher. Ähnlich wie die jungen Menschen des Nachbarlandes, der BRD. Auffällig ist, dass fast jeder Jugendlicher sich in der Freien Deutschen Jugend engagierte (oder zumindest als Mitglied eingetragen war). Es fand auf diese Weise eine Vermischung von Politik mit Alltag statt, die dem Bürger Vorteile bieten konnte. Aber das Regime beherrschte keineswegs den Alltag. Es versuchte, diesen zu erleichtern. So konnten beispielsweise offiziell Beschwerden (sogenannte "Eingaben" der Bürger) eingereicht werden, die nach Möglichkeit zum Vorteil des Bürgers bearbeitet wurden, doch leider nicht immer konnten.

Der zweite Teil befasst sich mit dem Versuch eines Wechsels einer Klassen- zu einer klassenlosen Gesellschaft, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben sollen. Besonders hervorzuheben ist die tragende Rolle der Industrie- und Landarbeiter, die die Mühlen der Wirtschaft sind und über deren Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Dies ist die Vorstellung seitens der Regierung, die sich in der Realität aber nicht halten lässt. So wurde die Nomenklatura bevorzugt behandelt. Das Bürgertum wurde abgelöst durch die sozialistische Intelligenz.

Der dritte und letzte Teil untersucht die Bedeutung des Staates im Alltagsleben des Bürgers. So beteiligten sich etliche Ostdeutsche aktiv an sozialen und kulturellen Institutionen oder trugen zu kollektiven "Diskussionen" bei. Dies ermöglichte den "Ossis" einen größeren Freiraum als üblich für eine Diktatur. Es wurde lediglich ein geringer Prozentsatz vom Staat bespitzelt und unterdrückt. Viele Bewohner der ehemaligen DDR hatten die Möglichkeit, sich aktiv an der Zukunft des Staates zu beteiligen.

Wissenschaftliche Abhandlung oder empirische Untersuchung?

Das Buch ist ähnlich einer wissenschaftlichen Abhandlung aufgebaut, wobei sie keineswegs als eine solche verstanden werden soll. Vielmehr handelt es sich hierbei um den Versuch, eine "empirisch begründete alternative Interpretation" zu liefern. Belegt werden die Argumente durch Zeitzeugen-Aussagen, die Fulbrook anhand reichhaltiger Quellen in den DDR-Archiven und Gesprächen ehemaliger ostdeutscher Bewohner erfahren hat. Sie kann mit deren Hilfe aufzeigen, dass das Leben im einstigen totalitären Staat nicht ganz so war, wie es der Westen uns glauben machen möchte. Aber sie übersieht keineswegs die negativen Seiten. So bestreitet sie nicht die Bespitzelungs- und Unterdrückungstaktiken der damaligen Staatssicherheit. Aber nur ein geringer Teil der Bevölkerung war diesen ausgesetzt. Man muss aber beachten, dass die dort stattfindende "Normalität" nicht vergleichbar ist mit den Maßstäben westeuropäischer Länder.

Susann Fleischer
27.10.2008

 
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Das Buch:

Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Aus dem Englischen von Karl Nicolai

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Darmstadt: Primus Verlag 2008
364 S., € 29,90
ISBN: 978-3-89678-643-2

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