Medien & Gesellschaft
Die Last des Nazi-Erbes
Aus der Schar aller nationalsozialistischen Scharlatane sticht Hermann Göring ganz besonders hervor. Er kannte keine Skrupel, um seine Machtgeilheit auszuleben. Er zelebrierte seine Passionen und ging dabei über Leichen. Schon in den frühen Zwanzigern übte er sich als loyaler Adlatus Adolf Hitlers, gewann dessen Gunst und war somit bestens positioniert für spätere und höhere Weihen. Zunächst wurde er in den Dreißigern Reichsluftfahrtminister, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichswirtschaftsminister, bevor er sich alle möglichen Titel einfallen ließ und an sein Revers heftete. Letztlich war er während des Zweiten Weltkriegs trotz aller grotesken Selbstdarstellungen einer der einflussreichsten Männer und damit einer der Hauptverantwortlichen für das Leid, das sich über Millionen Menschen auf der Welt ergossen hatte. Feige entzog er sich schlussendlich der Vollstreckung seines Urteils im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und beging im Oktober 1946 Selbstmord in seiner Zelle.
Hermann Göring entsprang einem an Ästen und Blättern reichen Familienstammbaum. Vier Geschwister und fünf Halbgeschwister hatte sein Vater mit Hilfe zweier Ehefrauen gezeugt. Eine derart breite Familienaufstellung hat natürlich zur Konsequenz, dass sehr viele Anverwandte von Hermann Göring über das Kriegsende hinaus mit dem Makel leben mussten, in irgendeiner verwandtschaftlichen Beziehung zu einem der größten Monster der deutschen Geschichte zu stehen. Es ist sehr gut nachvollziehbar, dass dieser Umstand von jenen als große Last wahrgenommen wurde. Mit Bettina Göring hat sich nun eine aus Hermann Görings Nachkommenschaft zu Wort gemeldet und sich mit einem Buch ihre Last von der Seele geschrieben hat: "Der gute Onkel - Mein verdammtes deutsches Erbe" lautet der Titel ihrer kürzlich erschienenen Biografie respektive Familiengeschichte.
Hermann Göring war Bettina Görings Großonkel, doch der etwas verzerrte Stammbaum der Görings stellt für den interessierten Leser sogleich eine erste Herausforderung dar. Hermann Görings ältester leiblicher Bruder war nämlich mit der Tochter einer deutlich älteren Halbschwester verheiratet. Diese beiden waren schließlich Bettina Görings Großeltern. Klingt kompliziert und ist es auch, doch mit Hilfe des im Anhang befindlichen Familienstammbaums wird es der Leser nach einigen Kapiteln verstanden haben. Unterstützt wurde Bettina Göring bei ihrem Buchprojekt von Melissa Müller, einer österreichischen Journalistin und Schriftstellerin, die mit ihren Büchern über Anne Frank oder Traudl Junge, Hitlers Sekretärin, bereits signifikante Berührungspunkte mit der Epoche und dem betroffenen Umfeld hatte. Recherchen in Print- und Online-Medien zufolge hat Bettina Göring diese Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte schon einige Jahre mit sich herumgetragen. Offensichtlich ist das vorliegende Buch das Endergebnis eines längeren Prozesses, den Bettina Göring für sich erfolgreich durchlaufen hat.
Die beiden Autorinnen haben sich dagegen entschieden, eine lineare und chronologische Erzählung der Familiengeschichte der Görings vorzunehmen. Stattdessen versucht Bettina Göring den gesamten Komplex ihres eigenen Lebens behutsam aufzubauen, um an den geeigneten Stellen in die jeweils relevanten Jahrzehnte zu verzweigen. Dabei reichen die Rückschauen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Schwerpunkte sind Bettina Görings eigene Lebensgeschichte und ihr Umgang damit sowie die Auswirkungen von Hermann Görings skrupelloser Nazi-Karriere auf diejenigen Menschen, die für die im Jahre 1956 geborene Protagonistin relevant waren. Dabei arbeitet sich Bettina Göring vor allem an ihren Eltern ab, die keine glückliche Ehe führten, sowie an ihrer Großmutter Ilse, die bekanntermaßen Schwägerin und Halbnichte Hermann Görings war.
Als Bettina Göring das Licht der Welt erblickte, lag Hermann Görings Suizid bereits ein Jahrzehnt zurück. Der Schatten, den Hermann Göring über seine Familie brachte, lastete somit weniger auf Bettina Göring, sondern in besonderer Schwere auf ihrem Vater und ihrer Großmutter. Die Auswirkungen auf Bettina Göring waren dementsprechend indirekter Natur, zu schaffen machten ihr vor allem der unstete Charakter des Vater, die Alkoholprobleme der Mutter und die Kälte der Großmutter. "Der gute Onkel" verdeutlicht auf eindrucksvolle Art und Weise, wie Bettina Göring nach Jahren der Flucht vor sich selbst und ihrer Familie mitsamt dem mehrjährigen Leben in Bhagwans Ashrams in Indien und den USA letztendlich einen sicheren Hafen und Stabilität im Leben gefunden hat.
Christoph Mahnel
15.04.2024