Medien & Gesellschaft

Die verlorene Ehre des Horst-Gregorio Canellas

Vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert erschütterte ein Skandal den deutschen Fußball wie nie zuvor noch danach. Nach den finalen Spieltagen der Bundesliga-Saison 1970/71, die mit einigen kuriosen Spielausgängen aufwarteten, platzte schließlich auf einer Gartenparty im Rhein-Main-Gebiet die Bombe. Horst-Gregorio Canellas, im Hauptberuf Großhändler mit Südfrüchten, öffnete als Präsident von Kickers Offenbach anlässlich seines eigenen 50. Geburtstags am 6. Juni 1971 im Beisein zahlreicher DFB-Größen und Pressevertreter die Büchse der Pandora. Auf einem Tonbandgerät ließ er Mitschnitte einiger von ihm geführter Telefonate ablaufen, die allen die Augen öffneten und zu Tage förderten, was keiner wahrhaben wollte. Etliche Spiele und Spieler der Fußball-Bundesliga waren gekauft worden, um den Abstiegskampf zu beeinflussen. Schockierend war insbesondere der Umstand, dass hier kein Einzeltäter am Werk war, sondern etliche Vereine und Spieler tief verstrickt waren.

Bereits damals galt die Weisheit, dass man den Verrat liebt, aber nicht den Verräter, zumal Canellas, dessen Offenbacher Kickers Leidtragende waren und im Zuge dieses gekauften Saisonfinales den Gang in die Zweite Liga antreten mussten, in die Verwicklungen und Spielmanipulationen massiv verwickelt war. Daher wollten die Moralhüter vom DFB gerne ihn als Einzelperson an den Pranger stellen und als Hauptschuldigen zur Verantwortung ziehen. Doch war Canellas nur einer von vielen, was den gewieften Geschäftsmann in die Situation brachte, seine Ehre wiederherstellen zu müssen. Für Canellas begann ein langer Kampf um Gerechtigkeit und Ansehen, in dem er mit vielen sensationslüsternen Journalisten, schurkenhaften Anwälten und restriktiven Fußballern das Gespräch suchte, um die Dinge in die richtige, in seine Richtung zu lenken. Obgleich Canellas letztlich einen moralischen Sieg davontrug, gab es am Ende durchweg Verlierer, vor allem der Fußball-Fan war desillusioniert zurückgeblieben und die Bundesliga brauchte einige Zeit, um ihre Glaubwürdigkeit zurückzuerlangen.

Kurioserweise gibt es zu diesem spannenden Geschichtsstück des deutschen Fußballs kaum bis gar keine Ausarbeitungen in Buchform. Zum 50-jährigen Jubiläum hat sich nun Andreas Lampert zur Aufgabe gemacht, diese Lücke zu schließen: "Die Canellas-Tapes" lautet der Titel seines im Göttinger Werkstatt Verlag erschienenen Buches zur Wiederherstellung der Ehre des Horst-Gregorio Canellas. Der Journalist und Kickers-Fan hütete in seinen Regalen jahrelang einen Schatz, den er nun in der Corona-Tristesse begann, angemessen aufzuarbeiten. Neben den vier "Klassikern", den Mitschnitten von Telefonaten zwischen Canellas und Spielern respektive Betreuern von Hertha BSC Berlin, Eintracht Braunschweig und dem 1. FC Köln, die auf besagter Gartenparty unter anderem beim damaligen Bundestrainer Helmut Schön die Kinnlade runterfallen ließen, hatte Canellas im Nachgang zu dieser Enthüllung noch viele weitere seiner Gespräche auf Tonbändern aufgenommen. Diese waren von Canellas einst einem Sportreporter in die Hände gedrückt worden, der sie wiederum an Lampert weitergereicht hatte.

Die Transkriptionen von zig im vorliegenden Buch enthaltenen Gesprächen liefern einen guten Einblick in den damaligen Zeitgeist, in eine Welt vor 50 Jahren, die noch nicht von ständiger Erreichbarkeit und sekundenschneller Dokumentenübermittlung bestimmt war. Außerdem zeigt sich das große Verhandlungsgeschick von Canellas, der trotz misslicher Lage seine Gesprächspartner, selbst gewiefte Unternehmer oder mit allen Wassern gewaschene Juristen, sehr clever manipulierte oder sie zumindest in seine Richtung lenkte. Eine strenge Chronologie gibt die Struktur für "Die Canellas-Tapes" vor. Nach einer kurzen Einleitung folgen besagte vier Klassiker, die Gespräche Canellas' mit Bernd Patzke, Tasso Wild, Manfred Manglitz und Utz Lammers. Den dominierenden Hauptteil bilden alle anderen bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen, die sich über fünf Monate von Oktober 1971 bis Februar 1972 erstreckten. Einem Epilog lässt Lampert schließlich noch ein im Jahre 1991 geführtes Interview mit Canellas folgen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Transkriptionen umfangreicher Telefonate gewisse Längen mit sich bringen, doch war es Lampert wichtig, die Authentizität zu bewahren. Die kurzen Überleitungen zwischen diesen Gesprächen hätten gerne noch etwas ausführlicher ausfallen können, da es einem, insofern man kein absoluter Insider des Bundesliga-Skandals ist, doch schwerfällt, alle Überlegungen und Motivationen der Personen, die sprechen bzw. über die gesprochen wird, im Kontext der Geschehnisse übereinander zu bringen. Das Studium des vorliegenden Buches zieht sich daher ein wenig in die Länge und liest sich nicht immer flüssig. Im Sinne einer Dokumentation des Bundesliga-Skandals ist diese Ausarbeitung ein absoluter Glücksgriff, obgleich sich selbst mit diesen detaillierten Aufzeichnungen die damaligen hochkomplexen Verstrickungen sämtlicher Protagonisten nicht mehr gänzlich aufarbeiten lassen.

Christoph Mahnel 
13.12.2021

 
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Das Buch:

Andreas Lampert: Die Canellas-Tapes. Die Tonbänder, die den Bundesligaskandal auslösten

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2021 352 S., € 19,90 ISBN: 978-3-7307-0580-3

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