Medien & Gesellschaft
Die letzten Stunden des letzten Mauertoten
Die Flucht zweier Familien aus Thüringen über die innerdeutsche Grenze anno 1979 war dank der spektakulären Verwendung eines Heißluftballons derart aufsehenerregend, dass Disney und Hollywood dies drei Jahre danach in einen Spielfilm gossen. Angetan von diesem Vorbild plante Anfang 1989 das jungvermählte Berliner Paar Winfried und Sabine Freudenberg einen ähnlich gearteten Fluchtversuch. Die beiden hatten im Oktober 1988 geheiratet und im Winter 1988/89 ihre wenigen Ehemonate damit verbracht, den Fluchtplan zu präzisieren und zu perfektionieren und in der gemeinsamen Wohnung das Fluchtgefährt herzustellen. Anfang März erschienen die meteorologischen Bedingungen dann bestens geeignet, um den Plan in die Tat umzusetzen.
An einer Gasreglerstation füllten die Freudenbergs in der Nacht vom 07. auf den 08. März 1989 ihren Ballon mit dem für den Grenzübergang dringend benötigten Treibstoff. Scheinbar wurden die beiden bei ihrem Treiben gestört, denn nur Winfried Freudenberg stieg noch rechtzeitig vor dem Zugriff der Volkspolizei auf in den nächtlichen Himmel von Berlin. Sabine Freudenberg wurde beim Eintreffen in ihre Wohnung sogleich verhaftet. Ihren Ehemann sollte es allerdings das Leben kosten. Er stieg nämlich unkontrolliert in die Höhe, wurde abgetrieben und landete zwar noch auf West-Berliner Boden, jedoch im Sturzflug aus großer Höhe, weshalb er noch an der Absturzstelle seinen Verletzungen erlag. Winfried fand damit Eingang in ein sehr trauriges Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte, nämlich gut ein halbes Jahr vor der Maueröffnung als letzter Mauertoter. Über die Gesamtzahl der Opfer an der Berliner Mauer gibt es unterschiedliche Angaben. Einige Quellen sprechen von 140 Toten, andere von 245 Opfern. Fest steht allerdings, dass Winfried Freudenberg der letzte in dieser Liste war.
Mehr als ein Vierteljahrhundert nach diesem erfolglosen Fluchtversuch mit Todesfolge wird die Autorin Caroline Labusch von einem Freund auf diesen Fall aufmerksam gemacht. Sie knien sich hinein in die Recherchen und vorliegenden Dokumente und stoßen dabei auf einige Ungereimtheiten und Unklarheiten. Wie konnte es zum Absturz von Winfried Freudenberg kommen? Warum trennte sich das frischvermählte Paar in der Fluchtnacht? Caroline Labusch und ihr Freund begeben sich auf eine Reise zu den Wurzeln Winfried Freudenbergs in dessen Heimat im Harz, wo sie mit Winfrieds Bruder und einigen Freunden und Bekannten ins Gespräch kommen, um ein Bild von dem Mann zu erhalten, der auf einem unter dem Ballon angebrachten Brett mehrere tausend Meter in die Höhe trieb. Als schließlich wenige Monate später die Mauer fiel, war Sabine Freudenberg bereits wieder auf freiem Fuße, in fester Anstellung und auf dem Weg in ein neues gesamtdeutsches Leben nach Winfried.
Das vorliegende Buch "Ich hatte gehofft, wir können fliegen" erzählt von der spannenden Recherche Caroline Labuschs und ihren Mitstreitern. Sie stellen ganz im Sinne des Dortmunder "Tatort"-Kommissars Faber die Szenen an der Gasreglerstation nach, wie die Trennung von Winfried und Sabine abgelaufen sein könnte. Das Auffinden von Sabine ist auch der Schlüssel zum Erfolg von Labuschs Detektivarbeit. Ohne ihre Bereitschaft auszusagen, wird es nach der langen Zeit sicherlich nicht mehr möglich sein, Licht ins Dunkel dieses mysteriösen Falles zu bringen. Für den Leser ist der Ton in den Dokumenten von Institutionen der "DDR" immer wieder verstörend, wie scheinbar harmlose Begrifflichkeiten verwendet werden, um Unmenschliches und Unrecht legitimiert klingen zu lassen.
"Ich hatte gehofft, wir können fliegen" beinhaltet eine Liebesgeschichte, ist aber zugleich ein sehr kühler Erlebnisbericht, gemäß dem ein extrovertierter und niemals aufgebender Mann in der Deutschen Demokratischen Republik immer wieder eingefangen und auf Linie gebracht werden sollte. Dass dieses Freiheitsstreben des Winfried F. schließlich mit dem Tod endete und auf derart tragische Weise, lässt den vom vorliegenden Buch bewegten Leser traurig zurück. Caroline Labuschs sehr gelungene Recherche und die eindringlich verfasste Dokumentation sollte allen Ostalgikern vorgelegt werden, die mit einem sehnsüchtigen Blick von Pitti Platsch, Ampelmännchen, Rotkäppchen-Sekt und ihrem ersten Trabbi erzählen. Der staatliche Rahmen um viele durchaus schöne Erinnerungen war ohne Wenn und Aber ein Unrechtsstaat, der Menschen zum Ausspähen von Menschen rekrutiert und ausgebildet hat. Daran erinnert Caroline Labusch ganz eindringlich und nachhaltig.
Christoph Mahnel
08.07.2019