Medien & Gesellschaft

Ein Jäger für Gerechtigkeit

Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt mittlerweile mehr als siebzig Jahre zurück, so dass diejenigen Menschen unter uns, die das Geschehen hautnah miterleben mussten, schon ein stattliches Alter aufweisen. Insbesondere befinden sich solche, die in verantwortlichen Positionen Schuld auf sich geladen haben, schon weit in den Neunzigern. Das führt dazu, dass es im Hier und Jetzt nur noch wenige Möglichkeiten gibt, diese - insofern noch nicht geschehen - ihren gerechten Strafen zuzuführen. Blickt man zurück ins vergangene Jahrhundert, waren vor einigen Jahrzehnten noch aufsehenerregende Prozesse wie z. B. gegen Eichmann oder Barbie nahezu an der Tagesordnung. Viele Schergen und Helfer der Todesmaschinerie waren jedoch nie belangt worden, sei es, weil die Justiz versagte oder ihr eigenes Ableben Justitia in die Quere kam.

Im Jahre 1958 war mit der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eine Einrichtung gegründet worden, die Informationen für staatsanwaltliche Ermittlungen gegen NS-Verbrecher zusammentragen und entscheidende Vorbereitungen tätigen sollte. Von 2000 bis 2015 agierte Kurt Schrimm als ihr Leiter und konnte in diesen späten Jahren noch einige beachtliche Erfolge feiern. Der 1949 in Stuttgart geborene Schrimm war zuvor lange Jahre bereits als Staatsanwalt tätig gewesen, bevor er zur Jahrtausendwende die Stelle in Ludwigsburg übernahm, die er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand innehaben sollte. Mit "Schuld, die nicht vergeht" hat Schrimm nun seine Lebensgeschichte als Buch herausgebracht. Auf faszinierende Weise berichtet er darin über seine Arbeit als Mann, der nach Gerechtigkeit strebte.

Schrimm war schon vor dem Jahre 2000 als Ankläger von NS-Verbrechern tätig gewesen und hatte entsprechende Erfolge wie auch Misserfolge gefeiert, so dass er geradezu prädestiniert dafür war, die Leitung der Zentralen Stelle zu übernehmen. Es zeigt sich im vorliegenden Buch rasch, dass Schrimm es gewohnt ist, für seine Arbeit sowohl im Erfolgsfalle als auch im Scheitern kritisiert zu werden. Für seine Kritiker, die ihm vorwerfen, dass man diese alten Männer doch jetzt bitteschön in Ruhe lassen möge, hat er eindeutige Antworten parat: Zum einen sei man es Opfern und Angehörigen schuldig, dass Gerechtigkeit geschehe, zum anderen haben diese Männer einst auch nicht nach dem Alter ihrer Opfer gefragt. Darüber hinaus sieht er sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, dass die deutschen Behörden in den Nachkriegsjahrzehnten nicht genug getan hätten, um die Täter rechtzeitig ihren Strafen zuzuführen. Schrimms Antworten darauf sind recht differenziert, da die Tatsachen viele Schattierungen von Grau aufweisen.

Das im Heyne Verlage herausgegebene Lebenswerk Kurt Schrimms wartet mit vielen hochinteressanten Fällen auf. Im Zentrum stehen dabei vier erfolgreiche Prozesse Schrimms, die seinerzeit auch nationales Medieninteresse gefunden hatten, unter anderem die Prozesse gegen Josef Schwammberger oder vor gerade einmal sechs Jahren gegen John Demjanjuk, der mutmaßlich als der letzte große NS-Prozess in die Geschichtsbücher eingehen wird. "Schuld, die nicht vergeht" ist aber weit mehr als eine Lebenschronik Schrimms oder eine Nacherzählung seiner Prozesse gegen NS-Schergen. Schrimm versteht es ganz hervorragend, dem laienhaften Leser die Feinheiten des Strafrechts näherzubringen. Seien es die Schwierigkeiten, die der Grundsatz, dass niemand zweimal für dasselbe Verbrechen bestraft werden darf, mit sich bringt, oder seien es die großen Herausforderungen, die Ankläger ob der weit zurückliegenden Ereignisse hinsichtlich von Zeugenaussagen und ganz grundsätzlich der Beweisbarkeit zu bewältigen haben.

Wer zu Beginn des vorliegenden Buchs noch skeptisch ist, ob hier nicht über knapp vierhundert Seiten trockene juristische Feinheiten behandelt werden, wird schnell eines Besseren belehrt. Schrimm plaudert in einer sehr einfachen Sprache, wofür ihm der juristische Laie dankbar ist, da die eine oder andere notwendige juristische Passage schon genug Komplexität mit sich bringt. Der Autor zeigt sich darüber hinaus sehr reflektiert in seiner persönlichen Einordnung von Erfolgen und Misserfolgen. Interessante Einblicke in sein Denken hält er bereit, wenn er ganz allgemein über das Thema Gerechtigkeit philosophiert und spezifisch darüber, ob es bei der Verfolgung der NS-Verbrecher denn überhaupt Gerechtigkeit geben könne. Auch ist er dank seines breiten Erfahrungsschatzes in der Lage, darüber zu urteilen, ob es typische NS-Verbrecher gebe. "Schuld, die nicht vergeht" ist in einer Zeit, in der die allerletzten NS-Verbrecher aussterben, ein brandaktuelles Buch über eine - hoffentlich - einmalige Episode der Bundesrepublik Deutschland.

Christoph Mahnel
30.10.2017

 
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Das Buch:

Kurt Schrimm: Schuld, die nicht vergeht - Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur

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München: Heyne Verlag 2017
400 S., € 22,00
ISBN: 978-3-453-20119-4

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