Medien & Gesellschaft

Fußball-Geschichte mal ganz anders erzählt

Die besonderen Fußballspiele, gerade die ganz großen am Ende einer Welt- oder Europameisterschaft, haben das Potential, ein Land in einen kollektiven Taumel zu versetzen oder - bei negativem Ausgang - es in ein Tal der Tränen zu stürzen. Auf die jüngste Vergangenheit und auf Deutschland bezogen, lässt sich ersteres beispielsweise auf die beiden letzten Spiele der WM vor drei Jahren beziehen, für eine tagelange Tristesse und ergiebigen Dauerregen hingegen sorgte anno 2006 das Halbfinal-Aus gegen die Italiener bei der Heim-WM, als das Sommermärchen ein abruptes Ende fand. Doch sind dies nur Auswüchse in einer Wohlstandsgesellschaft, denn in anderen, meist ärmeren Länderen haben Fußballspiele die Kraft, wochenlange offizielle Staatsfeierlichkeiten oder tatsächlich sogar Kriege auszulösen.

Der Sportjournalist Christian Eichler, tagsüber für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" tätig, hat nun versucht, eine Geschichte des Fußballs zu schreiben. Dafür hat er sich insgesamt neunzig Spiele ausgesucht, anhand derer er die ganze Geschichte rund um das Leder, das in Eckige muss, erzählen möchte. Die Ankündigung dieses mutigen Versuchs hat aufhorchen lassen, doch wenn man ein paar Stunden in "90 oder Die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen" gestöbert hat, muss man konstatieren, dass Eichler ein richtig guter Wurf gelungen ist. Für die Struktur seines Buches hat er dabei die neunzig Minuten eines Fußballspiels gewählt und jedem Spiel eine einzelne Minute gewidmet. An vier Stellen hat er sich ein wenig darüber hinweggesetzt und zwei oder drei eng zusammengehörende Spiele der entsprechenden Minutenanzahl zugeordnet. Wie ließen sich beispielsweise sonst auch die drei Spiele in Nürnberg, Frankfurt und Rostock aus dem Abstiegsdrama von 1999 anders als im Paket schildern, so dass Eichler ihnen eingedenk ihrer Dramatik die Minuten 85, 86 und 87 reserviert hat.

Der geneigte Leser von qualitativ hochwertigen Fußballbüchern wird ob dieses Ansatzes aufhorchen, denn Christian Eichler hatte auf ähnliche Weise schon vor zwei Jahren einen Hit gelandet: In "7:1 - Das Jahrhundertspiel" widmete Eichler dem legendären deutschen Halbfinale gegen Brasilien ein ganzes Buch, unterteilt in 90 Kapitel respektive Minuten, in denen er das Geschehen entsprechend minutiös zum Besten gab. Besagtes Schlachtfest von Belo Horizonte bildet übrigens im vorliegenden Werk auch den Abschluss in Minute 90, passend dazu hat er mit dem sich anschließenden Finale gegen Argentinien in Minute 1 seinem Buch einen überspannenden Rahmen gegeben. Natürlich hat Eichler zwischendrin allen weiteren großen deutschen WM- oder EM-Schlachten eine Minute gegönnt, d.h. fast allen, denn vergebens wird man die beiden deutschen Titelgewinne aus den Neunzigern suchen. Gut, den blutleeren 1:0-Sieg gegen Maradonnas Argentinier in Rom kann man sicherlich verschmerzen, doch warum Oliver Bierhoffs Golden Goal sowie das diesem Spiel vorangegangene Elfmeter-Drama von Wembley im Halbfinale gegen den Gastgeber keinen Eingang gefunden hat, kann ganz alleine Christian Eichler beantworten.

Wie aber schnell ersichtlich wird, hat der Autor eben kein profanes Buch über die neunzig bedeutendsten Fußballspiele geschrieben, sondern einen übergeordneten Ansatz verfolgt, nämlich die Geschichte des Fußballs anhand von neunzig Spielen zu erzählen. Die einzelnen Kapitel umfassen in der Regel fünf bis sieben Seiten und werden meist mit den Eckdaten des Spiels eingeleitet. Am Ende eines jeden Kapitels findet Eichler dann mit wenigen Sätzen stets eine passende Überleitung von der vorherigen in die nächsten Minute und schlägt dabei Bögen, in denen er sehr klug die Bedeutung und die Magie des Fußballs herausarbeitet. Überhaupt wird selbst der kritischste Fußball-Experte bei Eichlers Schilderungen nichts zu meckern haben. Anders als in vielen schnell dahingekritzelten und auf den Markt geworfenen Fußball-Büchern überzeugt Eichler zu jeder Zeit mit enormer Kompetenz und Fachwissen. Auch beweist er in seinen Erzählungen eine feine Beobachtungsgabe für die einzelnen Spiele, da er stets sehr interessante und nicht immer die offensichtlichsten Aspekte in den Mittelpunkt seiner Spielbeschreibungen stellt.

"90 oder Die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen" hat, um seinem Auftrag gerecht zu werden, deswegen auch einige der breiten Masse gänzlich unbekannte Fußballspiele zu Tage gefördert. Wer weiß schon um die Besonderheiten des Finals um die Südamerika-Meisterschaft 1919 zwischen Brasilien und Uruguay oder des letzten Gruppenspiels beim Carribean Cup 1994 zwischen Grenada und Barbados oder kennt gar das torreiche Match zwischen AS Adema und Stade Olympique de l´Emyrne bei der Meisterschaft von Madagaskar anno 2002? 149 Tore fielen übrigens bei letzterem, was zeigt, dass selbst der abgebrühteste Fußball-Statistiker im vorliegenden Buch noch etwas lernen kann. Mit fast fünfhundert Seiten, portioniert in neunzig Häppchen ist Eichlers neuestes Werk - und dies ist keinesfalls abschätzig gemeint! - perfekt dafür prädestiniert, an einem Ort abgelegt zu werden, wo man in der Regel knapp fünf Minuten zubringt und sich dabei jeweils einer Minute der Geschichte des Fußballs widmen kann.

Christoph Mahnel
25.09.2017

 
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Das Buch:

Christian Eichler: 90 oder Die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen

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München: Droemer Verlag 2017
512 S., € 16,99
ISBN: 978-3-426-30139-5

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