Medien & Gesellschaft

Neuers Urahn

In einer längst vergangenen Zeit, als Fernsehbilder von Fußballspielen noch nicht inflationär aus allen Ecken und Ligen der Welt über die Mattscheibe flimmerten, sprach man von einem russischen Torhüter, den alle, die ihm je begegnet waren oder ihm gegenüberstanden, als den besten Torwart der Welt bezeichneten. "Der Löwe von Moskau", der "Schwarze Panther" oder die "Schwarze Spinne" waren Synonyme, die voller Bewunderung versuchten, den 1929 geborenen Lew Iwanowitsch Jaschin zu umschreiben. Zeit seines Lebens lief er nur für zwei verschiedene Mannschaften auf, für seinen Stammverein Dynamo Moskau und die sowjetische Nationalmannschaft, bis er im Alter von 40 Jahren die Torwart-Handschuhe an den Nagel hängte. Dabei hätte Jaschin wohl auch in anderen Sportarten zu höheren Weihen gelangen können.

Der junge Jaschin betätigte sich sehr erfolgreich auch abseits des Fußballplatzes, bevorzugt auf der Eisfläche, wo er das Eishockey-Tor hütete. Auf den vierundsechzig Feldern des Schachbretts brachte er es ebenfalls zu einer gewissen Meisterschaft. Letztlich durfte sich die Fußballwelt glücklich schätzen, dass Jaschin einen tiefen Fußabdruck in der Geschichte des Fußballs hinterlassen hat. Dementsprechend lang ist die Liste seiner Erfolge, mit Dynamo gewann er etliche nationale Titel, während er mit der "Sbornaja" Olympiasieger und Europameister wurde. Hierzulande ist sein Auftritt im WM-Halbfinale gegen die deutsche Mannschaft beim Turnier in England in Erinnerung geblieben. Jaschins Interpretation der Torhüterrolle war revolutionär, wie er mit Kalkül die strikte Bindung an die Torlinie und den Strafraum durchbrach und daher durchaus als Urahn eines Manuel Neuer bezeichnet werden darf. Hinzu kommt natürlich noch, dass er mit seiner Größe und seinen Reflexen auch Bestwerte in allen klassischen Torhüter-Kategorien erzielte.

Dietrich Schulze-Marmeling porträtiert und würdigt die russische Torhüter-Legende im vorliegenden Buch "Lew Jaschin - Der Löwe von Moskau". Mit seinen zahlreichen Publikationen, vorrangig beim Göttinger Werkstatt Verlag erschienen, hat er sich in den letzten Jahren zu einem Fußball-Sachautor der Extraklasse aufgeschwungen. In seinen Büchern über Johan Cruyff, Manuel Neuer oder George Best hat er bereits mehrfach bewiesen, dass er die Vitae von Fußball-Legenden höchst unterhaltsam aufarbeiten kann und dabei dank seiner fundierten Einbettung in die jeweilige Epoche ganz nebenbei auch noch als Geschichtslehrer für Fußball-"Maniacs" fungiert. Als sein bekanntestes Werk ist sicherlich "Der FC Bayern und seine Juden" zu bezeichnen, für das er im Jahre 2011den Preis als "Fußballbuch des Jahres" erhalten hat.

Wer die Machart von Schulze-Marmelings Büchern kennt und schätzt, wird sich im vorliegenden Fall die Hände reiben, da er sich darauf freuen kann, durch mehrere Jahrzehnte Fußball-Geschichte mit Fokus auf die russischen und osteuropäischen Begebenheiten geführt zu werden. Um dem chronologischen Ansatz Rechnung zu tragen, handelt der Autor zunächst kurz die keineswegs hochtrabende Entwicklung des russischen Fußballs in der Prä-Jaschin-Ära ab, bevor die goldene Epoche der Sowjets mit Jaschin zwischen den Pfosten ihre Anfänge nimmt. Was abseits aller Ergebnisse, Zu-Null-Spiele, reflexartigen Rettungsaktionen in letzter Sekunde dabei vor allem deutlich wird, ist die wunderbare Persönlichkeit Jaschins, der auch neben dem Platz einfach überragend war, wie es dem Autor von vielen Zeitzeugen zugetragen wurde.

Leider durfte sich Lew Jaschin nach dem Ende seiner aktiven Karriere gesundheitlich keines angenehmen Lebens erfreuen. Mit 55 Jahren wurde ihm ein Bein amputiert, fünf Jahre später das zweite, bevor er kurz darauf im März 1990 im Alter von gerade einmal 60 Jahren verstarb. Schulze-Marmeling bedient mit dem vorliegenden Buch viele Bedarfe seiner Zielgruppe: Wie gewohnt ist er sehr kenntnisreich und dank seiner Recherche extrem präzise, darüber hinaus richtet er seinen Blick auch über den Tellerrand hinaus, wenn er beispielsweise die Besonderheiten der Torwart-Rolle in der russischen Gesellschaft oder die unerwartete Progressivität im osteuropäischen Fußball der Fünfziger und Sechziger Jahre thematisiert. Alles in allem bekommt der Fußball-Freund mit "Lew Jaschin - Der Löwe von Moskau" wieder einmal ein Buch geliefert, das keine Wünsche offen lässt und seinen Horizont rund ums runde Leder beträchtlich erweitert.

Christoph Mahnel
08.05.2017

 
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Das Buch:

Dietrich Schulze-Marmeling: Lew Jaschin - Der Löwe von Moskau

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2017
272 S., € 19,90
ISBN: 978-3-7307-0331-1

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