Biographie

Mit vielen Augen sehen

Rudolf Steiner war ein charismatischer Mensch. Anthroposophen und deren Gegner scheinen sich gern in den Haaren zu liegen, wenn es um die Interpretation des Lebenswerkes Rudolf Steiners geht. Einigkeit besteht über die Tatsache, dass Steiner eine ganz besondere Ausstrahlung hatte – so stark war diese Ausstrahlung, dass die Gegner gar die Ermordung planten. Wer war der Mensch Rudolf Steiner? Sein Werk ist umfangreich und wer versucht, sich einfach durch die Lektüre der Bücher ein Bild von seiner Botschaft zu machen, scheitert in der Regel rasch. Den Büchern haftet der Odem des Unverständlichen, des Schwierigen, des "ich kann nicht ganz folgen" an – nicht ganz zu Unrecht, mühsam ist der Weg zur Erkenntnis.

Erika Beltle und Kurt Vierl haben von über 50 Menschen Texte zusammen getragen, die Rudolf Steiner persönlich kannten. Aus ihren Berichten entsteht das Bild, das Rudolf Steiner in vielen Jahren seines Arbeitens und Wirkens vermittelt hat. Für Nichtanthroposophen eine Möglichkeit, sich über die Person Steiner auch für sein Werk zu interessieren, für alle anderen ein Weg, um etwas über den Mann zu erfahren, dessen Gedanken sie im Inneren tief berührt haben.

Von unterschiedlichen Blickwinkeln aus wird in diesem umfangreichen Buch ein Bild Steiners wie aus vielen kleinen Mosaiksteinchen zusammen getragen, die sich erst durch ein bisschen Abstand zum Gesamteindruck formen. Menschen, die als Kinder Steiner erlebt haben, denken mit anderen Gefühlen an Rudolf Steiner zurück als Leute, die in ihm den Schöpfer der Mysterienspiele kennen lernten oder zuerst einmal verständnislos zuhörten, als er seine Ansichten zur Landwirtschaft und ihrem weiteren Weg kund tat. Das Buch schließt eine Lücke, die nach der Lektüre der Werke Steiners bleibt: die persönliche Komponente, die ihm offenbar weniger lag. Natürlich gibt es autobiographische Aussagen zu Rudolf Steiner, niedergelegt in "Mein Lebensgang", und doch wird erst mit den vielen kleinen Anekdoten und Geschichten Steiner auch zum Menschen, den man vor sich sehen kann.

Es ist etwas ganz anderes, wenn man durch die Lektüre Rudolf Steiner als Menschen erkennen kann, der nicht nur grundlegende Gedanken äußerte, sich auf den verschiedensten Gebieten als hervorragender Kenner der Materie hervortat, sich für die Erneuerung von Gesellschaft, Medizin, Kunst einsetzte und dem Materialismus sein Menschen- und Weltbild entgegensetzt, das weit, weit hinausgreift über ein Menschenleben, gar über die Menschheitsgeschichte, hinaus, dessen Dimensionen für uns heute noch ebenso mühsam erarbeitet und nach-gedacht werden müssen wie zu der Zeit, da Steiner seine Ansichten noch persönlich vermitteln konnte. Steiner ist hier als Mensch geschildert, der mit Begeisterung anderen die Hand schüttelte, sie vor Aufgaben stellte, die sie nie zu bewältigten fürchteten und doch war es für jeden einzelnen, von Steiner angesprochenen Menschen, genau der rechte Weg für sein Leben. Der Leser wird z. B. in die Anfänge der Eurythmie hineingeführt und erlebt durch die Erinnerungen mit, dass alles, was in den Jahren geschaffen worden ist, durch Menschen entwickelt und getragen wurde. Oft konnte Rudolf Steiner nur die Richtung angeben, die Menschen "auf das Gleis" stellen, die Kohle in den Ofen werfen, die Weichen stellen und beladen losfahren mussten sie dann schon alleine.

Wenn man heute liest, wie vielen Bereichen Steiner Impulse gab, was sich alles in diesen Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts bewegt hat, welche gewaltigen Aufgaben die ersten "Anthroposophen" stemmten, hat man ein bisschen den Eindruck, dass es am Schwung und der Begeisterung dieser Jahre heute fehlt. Fast ein wenig neidisch blicken heutige Anthroposophen auf die Menschen zurück, die Steiner noch kannten und allein durch sein aufmunterndes Wort neu erkraftet an ihre vielfältigen Aufgaben gingen.

Heutigen Anthroposophen bleiben die Schriften und mitstenografierten Vorträge, die weiterentwickelten und ausgestalteten einzelnen Bereiche wie Landwirtschaft, Eurythmie, Sprachgestaltung, die gesamte Kunst, wie sie am Goetheanum entstand, die Waldorfschulen und die Ausweitung der Heilkunde und damit die Zielrichtung der Aufgaben. Mit diesem Buch aber wird man mit dem Menschen Rudolf Steiner bekannter gemacht – mit seiner Fähigkeit, auch vor Hunderten von Menschen intensiv zu sprechen, als sei man einziger Zuhörer, mit seinem Humor, seiner Herzlichkeit, seinem tief in das Herz schauen und aus der Tiefe des eigenen Herzens raten, mit dem Menschen, der weiter sah und wohl schmerzlicher als viele anderen wusste und begriff, wohin die Menschheit sich wenden würde. Für Nichtanthroposophen wird so vielleicht verständlicher, wie Rudolf Steiner mit den Menschen umging, was er in ihnen auslöste und bis heute auslöst.

Viele seiner Gedanken und Ansätze, die man sich sonst mühsam in der Theorie erarbeiten muss, werden hier durch die kleinen Anekdoten einfach anschaulich, bekommen ein sehr persönlich gefärbtes, sehr menschliches Gesicht. Und für Anthroposophen kann das Buch zu einer Kraftquelle werden, wenn man zum wiederholten Male geneigt ist, ein Werk ins Eck zu schleudern, weil die Zusammenhänge noch eine Nummer zu groß sind. Rudolf Steiner hätte verständnisvoll genickt, aufmunternd die Hand auf die Schulter gelegt und vermutlich wäre ein – möglicherweise ganz unverständlicher, aber letztlich hilfreicher – Ratschlag in Form einer Aufgabe, begleitet von einem wärmenden Blick, erfolgt. Wie Steiner mit den Menschen arbeitete, wird jedenfalls in diesem Band sehr anschaulich. Daraus können heutige Anthroposophen manchmal eine ganze Menge lernen ...

csc
03.08.2002

 
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Das Buch:

Erika Beltle: Erinnerungen an Rudolf Steiner

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Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2001
564 S., € 35,00
ISBN: 3-7725-1979-2

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