Biographie
Das menschliche Antlitz als Spiegel schöpferischer Größe
Unsere medienübersättigte Zivilisation wird inflationär mit Porträtphotographien überflutet, so dass es wirklich höchste Zeit wird, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen. Die Medienwissenschaft könnte zu deren Erkundung mit üblichen Untersuchungsrastern dienen, deren stillschweigender Pakt mit dem Gegenstand der Analyse womöglich Förderungsmittel bewilligt bekäme, das heutige Wundermittel von Exzellenz an den Universitäten. Markus von Hänsel-Hohenhausens originellerer Weg wird vielleicht die wissenschaftliche Zunft verstören, aber dafür die nach Orientierung Suchenden mehr befriedigen, denn er entwirft eine "Metaphysik des Antlitzes", die er an fünfzehn vorzüglich ausgewählten Beispielen mit elegant geschriebenen biographischen Skizzen erprobt. Welch eine Freude für seine Leser, sich so verständlich und einfühlsam in die Lebenswelt der Porträtierten einführen zu lassen!
Metaphysik wird heute, auch von den an den Universitäten lehrenden Philosophen, ins Abseits des Unwissenschaftlichen verdrängt, während Markus von Hänsel-Hohenhausen in provokativen Studien überzeugend Analogien zwischen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Spitzenforschung und der Metaphysik herausarbeitet. Die Grundlagen für das zu besprechende Buch liefert er in Vom Antlitz der Welt. Gedanken zur Identität im 21. Jahrhundert (Frankfurt u. a., Frankfurter Verlagsgruppe 2005), das ich wärmstens zur Lektüre empfehle, aber hier leider nicht würdigen kann. Die Porträtphotographie illustriert sonst bloß Ausführungen über berühmte Persönlichkeiten, ohne nach ihrer Aussagekraft befragt zu werden. Dieser weiße Fleck erklärt sich vermutlich mit dem Fehlen von Beschreibungskategorien, denn die alte Physiognomik, die vielleicht noch über Lavater bekannt ist, gräbt man höchstens zum Thematisieren von Vergangenem aus. Im vorliegenden Werk geht es jedoch um die gegenwärtig zentrale Frage nach menschlicher Identität innerhalb wachsender Möglichkeiten der Manipulation.
Was gibt es im menschlichen Antlitz zu erkunden? Die Werbung für Kosmetik entdeckt Hautunreinheiten oder Spuren des für den Menschen normalen Alterns, um sie zu beseitigen. Die Firmen für Marketing raten Politikern und sonstigen nach oben Strebenden, ihr eigentliches Wesen hinter einer Standardmaske zu kaschieren, um möglichst gut anzukommen. Wer war nicht schon Touristen behilflich, ihr Konterfei vor irgendwelchem Hintergrund abzulichten? Der internationale Terrorismus verzeichnet den pikanten Erfolg, dass anständige Bürger ihr Passfoto den Standards für die Fahndung nach Verbrechern anpassen müssen. Ist das Individuum diesen Mechanismen hilflos ausgeliefert? Nein, antwortet Markus von Hänsel-Hohenhausen, denn im menschlichen Antlitz leuchtet etwas Besonderes auf, das dem Individuum eignet, sich jedoch dem technischen Zugriff entzieht. Es ist metaphysisch zu verstehen und mit der christlichen Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Geschöpfs zu erklären. Diese These wird unsere Medien stören, die alles Christliche beargwöhnen und mit der Pose des wissenschaftlich Aufgeklärten den Islam verklären. Nur liefert die neueste Technik biometrischer Photographie ein möglichst getreues Bild des menschlichen Körpers, das "die gescannte Person [...] bis zur Häßlichkeit entstellt". Die Freiheit der Phantasie im Regietheater bezahlen wir mit dem Verlust der Menschenwürde, wenn das große literarische Erbe auf die banalste Ebene des Heutigen heruntergezogen und zum Bestätigen in Umlauf befindlicher Vorurteile missbraucht wird. Normalität wird als Modell hochgehalten und selbst von katholischen Theologieprofessoren als Richtschnur angepriesen. Zur heutigen Normalität gehört es, sich selbst absolut zu setzen und somit das kapitalistische Prinzip des Benutzens der Andern zur Leitlinie des Umgangs miteinander zu erheben. Das Porträt lebt vom sich Öffnen für den Andern und bedarf "der subjektiven Auffassung eines anderen Subjekts, [...] eines Malers oder eines Photographen, um eine Person wahr zu beschreiben." Deshalb sucht Markus von Hänsel-Hohenhausen im Antlitz das Wesentliche eines Menschen, um die "Wahrheit im Porträt" zu erkunden. Die absolute Neuartigkeit seines Ansatzes wird nicht dadurch gemindert, dass es sich um eine längst erprobte, vielleicht lange selbstverständliche, aber nie wirklich bewusst ausformulierte Grundlage der Menschendarstellung handelt. Solange unsere große Malerei noch gegenwärtig bleibt, wird es kaum möglich sein, die Evidenz der hier vorgetragenen Einsichten zu erschüttern.
Die Bildende Kunst hat seit dem Aufkommen der Photographie das Porträtieren zum Handwerk für Straßenmaler verkommen lassen, die wie die Photoautomaten Äußerliches abbilden, ohne zur Persönlichkeit des Dargestellten vorzudringen. Picasso nutzte die Freiheit vom Nachahmungsprinzip zur Charakterisierung seiner Porträtierten, löste aber in seinen imaginären Menschendarstellungen die Gesichtszüge völlig auf. Doch "die Rasterbilder Roy Lichtensteins, die leeren Farbfelder Mark Rothkos und die Photoverfremdungen Andy Warhols" bleiben bei der "Materie als stumpfe Wahrheit" stehen. Woran liegt dieser Mangel? Im Verkennen des auratischen Antlitzes der Person, das in der Gottebenbildlichkeit des Menschen grundgelegt ist. Das Fertigen wie das Wahrnehmen eines Porträts erfordert die Teilhabe am Geist des anderen. Markus von Hänsel-Hohenhausen sieht "in der Maske der Person" das sich Ereignen "von Schönheit aus Wahrheit" und greift damit die große Tradition der europäischen Rhetorik auf, deren Ausprägung von Umgangsformen und Bühnengeschehen sich aus dem Wissen speist, dass der einzelne als persona bzw. als gesellschaftlich eingebundenes Wesen in einem komplexen Beziehungsgeflecht des Gebens und Nehmens steht, das ihn ebenso beschenkt wie einfordert. Das Erstaunliche dieses Buches verdankt sich den christlichen Grundlagen des Abendlandes, die heute selbst von Theologen verkannt werden. Um sich vor einer eigenwilligen Beanspruchung von Porträtphotographie zu schützen, wählte er aus seiner eigenen Sammlung "durch handschriftliche Zusätze (des Porträtierten) authentifiziert[e]" Künstlerporträts aus, "deren Schönheit die Gegenwart des Geistes im Antlitz sichtbar macht."
Mit diesem Vorgehen bestätigt er eine unserer Grundüberzeugungen, dass nämlich im Künstler das schöpferische Vermögen des Menschen seine höchste Ausformung erhält. Giorgio Vasari hat seine monumentale Sammlung von Künstlerporträts diesem Ideal verdankt und das Schöpferische der großen Maler mit ihrer Eigenwilligkeit in Verbindung gebracht. Bis heute wird Genialität als Entschuldigung für alles Mögliche heraufbeschworen. Nicht so bei Markus von Hänsel-Hohenhausen. Seine fünfzehn Porträtphotographien laden den Betrachter zu einem beglückenden Dialog ein, seine gleichermaßen informativen wie einfühlsamen biographischen Skizzen vertiefen dieses Zwiegespräch. Die Bilder sprechen schon für sich, gewinnen aber durch deren meisterhafte Deutung an Aussagekraft. Der Drucksatz in Caslon-Schrift auf Munkenpapier ist sehr ansprechend, der Einband eine der selten gewordenen gestalterischen Leistungen von Buchkunst. Man nimmt dieses Buch gern in die Hand und öffnet oder verschenkt es immer wieder mit neuer Freude! Auf dem Buchdeckel sind die fünfzehn Porträtierten in alphabetischer Reihenfolge beginnend mit Wolf Graf Baudissin (1867-1926) aufgereiht, der auf dem Höhepunkt seiner literarischen Karriere 1914 als eleganter Ästhet photographiert, aber heute kaum noch bekannt ist. Als August Bebel auf dessen Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft im Deutschen Reichstag zu sprechen kam und damit den Zwischenruf "Er ist ein Lump!" provozierte, zog diese Beschimpfung noch eine Aufforderung zum Duell nach sich. Nach dem Krieg waren seine Humoresken nicht mehr gefragt, und er setzte seiner verarmten Existenz in unfreiwilliger Wohngemeinschaft mit einer Zwangsmieterin, deren virtuose Beschreibung durch ihn hier nachzulesen ist, selbst ein Ende. Am Schluss des Alphabets steht Walt Whitman (1819-1892), der den "Beginn der amerikanischen Nationalliteratur" markiert, in seinem literarischen Rang gewürdigt und auf die individuellen Hintergründe seines Dichtens hin durchleuchtet wird. Ausgehend vom späten Porträtphoto wird er als homosexueller Außenseiter im Konflikt mit der Mentalität und der Justiz seiner Epoche dem Leser nahe gebracht. Seit in der Renaissance Paolo Giovio Persönlichkeiten zu einer Galerie von Vorbildern versammelte, sind Porträtskizzen an das Modellhafte im Guten wie im Schlechten gebunden, während Markus von Hänsel-Hohenhausen frei von diesem Anspruch verschiedene Persönlichkeiten als Beispiele großen Menschentums vorstellt, ohne den Leser auf deren Nachahmung festzulegen. Vasaris Augenmerk auf das schöpferische Individuum und Giovios Blick für das Modellhafte werden hier um die Würdigung überzeugender Ausformungen des Menschlichen ergänzt, das sich in vielfältigen Lebensläufen ganz unterschiedlich realisiert und in auratischen Antlitzen spiegelt.
Im Innern beginnt die Darstellung mit Ignacy Jan Paderewski (1860-1941), jenem erfolgreichen Klaviervirtuosen, der seine künstlerische Befähigung mit dem politischen Kampf für ein unabhängiges Polen zu verbinden wusste. Sie endet mit Julius Bittner (1874-1939), einem in seiner Zeit populären Komponisten, dessen Porträt als kranker Mann im Rollstuhl in Frontalperspektive "an die große Porträtkunst der Alten Meister des 17. Jahrhunderts" erinnert. Sein qualitativ ungleiches Werk ist von der modernen Musik ins Abseits verwiesen worden. Markus von Hänsel-Hohenhausen entdeckt bei ihm ebenso menschliche Werte wie bei den Opfern, etwa Vivien Chartres (1893-1941), die als Wunderkind, mit ihrer Geige photographiert, kurzzeitig Triumphe feierte, dann aber durch eine falsche, von ihrer Mutter stammende Altersangabe in ein Strafverfahren wegen Kindesmissbrauch hineingezogen wird, das zum sofortigen Ende Ihrer künstlerischen Karriere führte und zum totalen Scheitern ihres Lebens beitrug. Der vielseitig begabten Erna Mendelssohn (1885-1943) wurde der berühmte Name womöglich zur Last, der Nationalsozialismus zum tödlichen Verhängnis. Ihrem menschlichen Rang im Porträtphoto tun diese äußeren Bedingungen keinen Abbruch, womit sich ein weiterer Vorzug dieser biographischen Skizzen erweist: die Überordnung menschlicher Qualitäten über die hoch gehandelten Maßstäbe des Erfolgs. Wo andere nur der große Reichtum von Dale Carnegie (1888-1955) interessiert, ist er für Markus von Hänsel-Hohenhausen "ein gewöhnlicher Mann mit der Begabung genau zu beobachten und die richtigen Schlüsse zu ziehen". Eine solche Sicht bildet den Gegenpol zu La Bruyère, dessen moralistische Charakterisierungen seit dem französischen 17. Jahrhundert das literarische Porträt auf allgemeine Prinzipien ausrichtete.
Der Leser wird seine Favoriten Arthur Conan Doyle (1859-1897), Karl May (1842-1912) oder Mark Twain (1835-1910) unter den Autoren, Johannes Brahms (1833-1897) oder Franz Liszt (1811-1886) unter den Komponisten herausgreifen und dabei vieles entdecken, was sonst kaum zu erfahren ist. Der Liebesbeziehung zwischen Brahms und Clara Schumann waren letztes Jahr viele Veranstaltungen gewidmet, doch habe ich nirgendwo wie hier das Bemühen angetroffen, die innige Zuneigung der beiden und ihr für uns letztlich schwer zu begreifendes Verhalten aus der damaligen Mentalität zu verstehen. Liszt ist durch Zolt Harsanyis Roman Die ungarische Rhapsodie zum Schürzenjäger abgestempelt, während hier seine komplexe Persönlichkeit ausgehend von seiner gescheiterten Beziehung zur Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein und der daraus resultierenden religiösen Spätphase verständlich gemacht wird. Die Selbstlosigkeit des alten Virtuosen mag den Musikfreund nicht interessieren, doch wäre es zu begrüßen, wenn die Photographie von Felix Nadar die Musiker auf den Gedanken brächte, die Graner Messer, auf deren zweite Aufführung in Paris die Widmung auf dem Photo datiert ist, heute wieder in ihrem musikalischen Rang zu würdigen oder gar neu auf CD einzuspielen. Karl Mays Schwierigkeiten mit der Justiz sind wahrscheinlich vielen seiner begeisterten Leser nicht unbekannt. Markus von Hänsel-Hohenhausen denkt sich in seine Perspektive als Opfer sozialer Diskriminierung sowie, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, der Medienhetze hinein, die für uns heute alltäglich geworden ist. Klaus Manns aus Hitlers Lektüre von Mays Romanen abgeleitete These, das Hitler-Regime sei der letzte Triumph Mays gewesen, widerlegt er mit dem Hinweis auf dessen späte philosophische Vorträge über den zivilisatorischen Fortschritt, der "vom Gewaltstaat zum Geistesstaat und zu einem Staat der Menschlichkeit" führen müsse. Von Doyle wird ein umstrittenes Photo mit einem jugendlichen Medium besprochen, das den Erfinder von Sherlock Holmes als Anhänger des Spiritismus zeigt, in dem er Hilfe und Trost für den Verlust seiner Frau, seiner Kinder und seiner Angehörigen suchte. Für Mark Twain als Außenseiter wirbt Markus von Hänsel-Hohenhausen mit viel Verständnis und ohne die geringste Sympathie für Normalität. Twain kehrt auf der Porträtphotographie "der Welt den Rücken" zu, die seinem Abenteurer Huckleberry Finn bei der Rückkehr "in die organisierte Gesellschaft" seine Freiheit nimmt. Seinem Biographen kann diese Haltung nur recht sein.
Ausnahmemenschen sind hier versammelt, aber selbst die Erfolgreichen unter ihnen sind keineswegs zur Nachahmung empfohlene Modelle für Karriere, sondern Beispiele für das, was der Mensch sein kann bzw. ist. Hierin sehe ich als Literaturwissenschaftler das völlig Neuartige dieses Buches, das unsere lange literarische Tradition der Porträtsammlungen durch die Erkundung des menschlichen Antlitzes als Schlüssel für die Suche nach den Erscheinungsformen des Menschlichen wesentlich bereichert.
Prof. Dr. Volker Kapp, Kiel
27.06.2011
www.haensel-hohenhausen.info
Das Buch:
Markus von Hänsel-Hohenhausen: Schönheit aus Wahrheit. Vom Wunder des Antlitzes im Bildnis am Beispiel von Porträtphotographien des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung in die Metaphysik des Antlitzes und mit fünfzehn Porträts von Wolf Graf Baudissin, Julius Bittner, Johannes Brahms, Dale Carnegie, Vivien Chartres, Arthur C. Doyle, Theod. Leschetizky, Franz Liszt, Karl May, Erna Mendelssohn, Ignacy Jan Paderewski, Louis Persinger, Upton Sinclair & Mark Twain, Walt Whitman
Frankfurt am Main: Frankfurter Literaturverlag 2011
119 S., € 48,00
Hardcover, im Bogenoffset in fünf Farben auf Munkenpapier gedruckt, Fadenheftung, aufgebunden, 15 Illustrationen
ISBN: 978-3-8372-0876-4
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