Biographie

Charlie ohne Chance?

Unter wie vielen Bücherstapeln er auch verschwindet, immer wieder krabbelt Charlie Chaplin hervor. Der Charlie, den die Menschheit meint zu kennen. Jenen kleinen Tramp, der für das Kino ist, was Donald Duck für den Comic ist. Ist der kleine Tramp Chaplin? Ist er eine Figur des Charlie Chaplin? Die Mehrzahl der Biographien, die über den Schauspieler, Regisseur und Autor geschrieben wurden, wurden verfasst, um den Ruhm des Berühmten zu mehren. Die Biographen haben beschrieben, was bekannt ist und Chaplin zum Bekannten machte. Charlie Chaplin wird wie eine Marke feilgeboten. Er hat eine Marke kreiert. Eine Marke war der Mensch Chaplin allerdings nicht. Wer war er?

Mancher hat manches über die Lebensgeschichte des Künstlers unter die Leute gebracht. Manchem Chaplin, der durch die Welt watschelt, sollte man schleunigst ausweichen. Nicht dem, den Stephan Weissman auf die Bühne gestellt hat. Weissman ist ein Psychoanalytiker, der in Washington lehrt. Er ist keiner der Plauderer amerikanischer Provinzen, der eine Biographie erzählt, um zu unterhalten. Was bei Weissman das Unterhaltende ist, ist das informative, analytische Darstellen der Biographie des Charlie Chaplin. Der Verfasser bekennt sich wiederholt zum Status desjenigen, der eine "psychoanalytische Strategie" im Verfassen des Buches verfolgte. Das ist das, was sein Buch über viele, viele Chaplin-Bücher hinaushebt. Das ist nichts für jedermann.

Weissmans Biographie endet, durchaus konsequent, in den Jahren 1914/15 und fasst das folgende halbe Jahrhundert in dem Kapitel "Was danach geschah" zusammen. Chaplins Schicksal ist dem Psychoanalytiker eine Studie wert, weil das Schicksal ein so ergiebiges ist. Alles, was dem Kind Charlie während seines ersten Lebensjahrzehnts widerfuhr, wurde ihm zum Fundus und zur Erfahrung seiner Kunst, deren grundsätzliche Modelle und Muster bis 1914/15 gebildet waren. Zumindest für den Analytiker.

Chaplins Wille und Werden war sowohl ein Wehren gegen die Eltern wie deren Würdigung. Penibel seziert der Analyst den geistigen, seelischen, unaufhaltsamen künstlerischen Verfall der Mutter wie des Vaters, den der Alkohol körperlich scheitern lässt. Die anhängliche Nähe zur belasteten Mutter, der Abstand zum bestaunten Vater prägten das Kind, dessen Schule das elterliche Elend war. Das lehrte ihn alles, was ihn keine Bildungsanstalt lehren konnte. Beobachtetes Leben bildete Charlie Chaplin. Kein Einmaleins, keine Schönschrift, keine Lektüre. Die Tragödien der Unbehüteten wurden zum Stoff der Chaplinschen Komödien. Dass dies unabänderlich so kommen musste, muss der Biograph bestätigen, weil er sich das auch als gründlich grabender Psychoanalytiker bestätigen muss. Nichts lässt er aus, was er aus der traumatischen, tristen, trostsuchenden Mutter-Sohn-Beziehung herausholen kann. Die Analyse als peinlich und penetrant zurückzuweisen hieße, ein Idol schützen zu wollen, in dessen Biographie tatsächlich viel Licht aus dem Schatten kam. Licht in den Schatten zu bringen, haben sich schon zu viele Biographen geweigert.

Charlie Chaplin auf der Couch von Stephen Weissman liegen zu sehen, ist nicht das Vergnügen, das man erwartet, wenn man an Chaplin denkt. Ob es das ist, was der sinnliche und sinnreiche Meisterkomödiant sich wünscht? Chaplin hat mit einer frühen und einer späten Autobiographie versucht, einiges von seiner Vita preiszugeben, was ihm wichtig war und wieso es ihm wichtig wurde. Das alles ist mit Zurückhaltung zu lesen. Wie auch Weissmans Analyse? Weil der Analysierte beizeiten - zu recht oder unrecht? - warnte, zu "tief in die Psychologie der Figuren" einzutauchen. Chaplin meinte die Figuren, die er auf der Leinwand in Bewegung setzte. Figuren, die für Weissman in der Kindheit Chaplins geboren wurden. Der Biograph ist tief eingetaucht, so dass für ihn alles über Chaplin gesagt ist, als der kleine Tramp da ist, der für die Welt Chaplin wurde.

Wer aber waren die Ahnen von Charlie? Wer die Großeltern? Wer die Verwandten? Wer die Freunde? Gemäß seines analytischen Konzepts ist dem Analytiker die Tiefe der Analyse wichtiger als die Breite. Das muss nicht stillschweigend hingenommen werden. Wie es nicht hinzunehmen ist, dass der Psychoanalytiker wiederholt vergleichbare konfliktbildende Ereignisse erste und einzige Ereignisse nennt. Ein Analytiker weiß zwischen dem Erstmaligen, dem Einzigartigen und dem Zeitpunkt von Erstmaligkeit und Einzigartigkeit zu unterscheiden. Konnte, wollte Weissman in der Biographie nicht so genau sein, weil es ihm mehr um Suggestion seiner Absichten als um Eindeutigkeit zu tun war? Wie konnte es ihm widerfahren, in dem 2008 erstmals in New York veröffentlichten Buch von einem "halben Jahrhundert nach Chaplins Tod" zu sprechen? Weil er so genau in der Genauigkeit nicht ist? Weil seine Chaplin-Biographie bereits vor einem knappen Jahrhundert endet?

Stephen Weissman hat wohlweislich nicht die Biographie, er hat "Eine Biographie" verfasst. Wer sie liest, muss sich auf einiges gefasst machen. Nicht, weil der Weltliebling Charlie Chaplin beschädigt wird, sondern weil Stephen Weissman Charlie Chaplin anders liebt, als andere.

Bernd Heimberger
11.01.2010

 
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Das Buch:

Stephen Weissman: Chaplin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

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Berlin: Aufbau-Verlag 2009
402 S., € 22,95
ISBN: 978-3-351-02708-7

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