Biographie

Auf den Spuren der Vergangenheit

Der Zweite Weltkrieg kostete circa 5,6 bis 6,3 Millionen Juden das Leben. Dies geschah unter anderem durch Massenerschießungen oder Vergasungen in Konzentrationslagern. Ziel war schließlich die vollständige Vernichtung der jüdischen Rasse. Doch es gibt auch Beispiele von Menschen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Solch ein Beispiel erzählt das Buch "Maskottchen. Wie ein jüdischer Junge den Holocaust überlebte". Hier gibt der Autor Mark Kurzem die Lebensgeschichte seines Vaters wider.

Alex Kurzems Geschichte könnte nicht fantastischer sein. Er ist mit seiner Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Australien ausgewandert und hat sich in einem Wanderzirkus als Elefantenjunge seinen Lebensunterhalt verdingt. Dies und noch mehr abenteuerliche Geschichten erzählt Alex gerne seinen drei Söhnen. Doch ein schwarzer Schatten bedeckt sein Leben, mit dem er tagaus, tagein leben muss. Er war nämlich ab 1942 in einer lettischen Polizeibrigade untergekommen, die einige Zeit später der SS unterstellt war. Um mit diesem schrecklichen Schicksal fertig zu werden, erzählt Alex seinem ältesten Sohn Mark seine wahre Geschichte.

Alex Kurzems Erinnerungen beginnen an einem Winterabend in seinem Elternhaus. Er erfährt von seiner Mutter, dass sie, er und seine beiden jüngeren Geschwister, am nächsten Tag getötet werden sollen. Doch Alex entscheidet sich fürs Leben und flieht am frühen Morgen, als im Haus noch alles still ist. Am nächsten Tag muss er dann die Erschießung seiner gesamten Familie mit ansehen. Nach diesem schrecklichen Erlebnis kehrt er seinem Heimatdorf den Rücken und irrt durch einen nahegelegenen Wald. Nach einer Weile findet er für kurze Zeit Zuflucht bei einer älteren Frau, doch ihr Sohn hat kein Mitleid mit dem kleinen Jungen und bringt ihn zu einer Polizeibrigade, die von Jekabs Kulis kommandiert wird. Dieser hat Mitleid mit Alex und nimmt ihn als Kindersoldaten, als Schützen (unter den Namen Uldis Kurzemnieks) in seine Einheit auf. Dabei muss Alex ein großes Geheimnis hüten: Er ist Jude!

Nach langer Zeit bei der Polizeibrigade, in der er viele Grausamkeiten (wie Vergewaltigungen, Erschießungen oder Verbrennen von Juden in einer Synagoge) miterleben muss, wird er von der Unternehmerfamilie Dzenis aufgenommen. Aber auch hier muss er sein Geheimnis für sich behalten. Denn schließlich ist Judesein in den Augen der Nationalsozialisten ein Verbrechen. Erst nach über 50 Jahren des Schweigens rückt er mit der vollständigen Wahrheit heraus. Alex hat auch nach all den Jahren den Wunsch, seine wahre Identität zu erfahren. Also begibt er sich zusammen mit Mark auf die Spuren seiner Vergangenheit.

Alex Kurzems Geschichte erscheint zum Teil zu fantastisch, um wahr zu sein. Wie kann zum Beispiel ein fünf-/sechsjähriges Kind ganz alleine mehrere Wochen oder gar Monate in einem Wald überleben? Wie kann man so lange ein Geheimnis für sich behalten? Warum kann er sich an bestimmte Momente haargenau erinnern, aber weiß dann noch nicht mal seinen Namen oder den Namen seines Dorfes, aus dem er kommt? Doch diese Geschichte baut nicht auf Phantasmen auf, sondern auf der Wirklichkeit. Untermauert werden manche Begebenheiten durch diverse Fotografien und Dokumente.

Die Sprache des Erzählers Alex Kurzem gleicht dem eines kleinen Kindes. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass er seine ganz persönliche Geschichte aus der Sicht eines Jungen erzählt, der letztlich überleben wollte. Das Buch ist nicht aufgebaut wie ein Roman, der eine Handlung Schritt für Schritt erzählt, sondern wie die Lebenserinnerungen eines alten Mannes (die es ja auch sind), in denen Zeitsprünge stattfinden, Lücken vorhanden sind und gleichfalls Gefühle bestimmend sind in der Beschreibung der Geschehnisse. Dabei wird die Handlung packend geschildert, die von der Gegenwart unterbrochen werden (zum Beispiel wird in das Haus der Kurzems eingebrochen und alles ist verwüstet und durchwühlt worden).

Nebenbei wird dem Leser die Rolle Lettlands während des Zweiten Weltkrieges nähergebracht. Denn so unschuldig, wie sich die Letten gerne darstellen, sind sie schließlich doch nicht. Auf diese Weise erhält man eine andere Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg, nämlich mit den Augen eines kleinen unschuldigen Jungen, der sich aber durch sein Schweigen durchaus mitschuldig fühlt.

Susann Fleischer
03.11.2008

 
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Das Buch:

Mark Kurzem: Maskottchen: Wie ein jüdischer Junge den Holocaust überlebte. Aus dem Englischen von Bernhard Robben

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Frankfurt am Main: Scherz Verlag 2008
447 S., € 19,90
ISBN: 978-3-502-15154-8

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