Biographie

Höchste Zeit

Mit dem vorliegenden Buch ist ein Augenzeugenbericht erschienen, für den es - aufgrund des Aussterbens der letzten Zeitzeugen aus den beiden Weltkriegen - allerhöchste Zeit war. Nachdem zu Beginn diesen Jahres mit Lazare Ponticelli und Erich Kästner die beiden letzten Veteranen des Ersten Weltkriegs auf Seiten Deutschlands und Frankreichs in stattlichem Alter verstorben waren, lichten sich von nun an auch immer mehr die Reihen von Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem werden Berichte solcher begehrt, die in ranghohen Positionen oder gar in der Nähe des Machtzentrums agiert hatten.

Mit Hilfe von zahlreichen Interviews haben Burkhard Nachtigall und Sandra Zarrinbal nun die Lebensgeschichte des mittlerweile 91-jährigen Rochus Misch aufgeschrieben: von dem frühen Tod der Eltern, seinem Heranwachsen als Waise bei einer Tante in der Nähe von Berlin, seiner Ausbildung und ersten Tätigkeiten als Kunstmaler, dem Beiwohnen des kollektiven Wahnsinns der Olympischen Spiele in Berlin, dem freiwilligen Beitritt zur SS-Verfügungstruppe, der späteren Waffen-SS und seiner Verwundung während des Polenfeldzuges bis hin zum wohl folgenreichsten Ereignis in seinem Leben: Misch wird dem Führerbegleitkommando zugeteilt.

Dort agierte Rochus Misch als Telefonist, Kurier und Leibwächter Adolf Hitlers. Er verbrachte ab Mai 1940 die nächsten fünf Jahre sein Leben Seite an Seite mit dem Führer, der für ihn nur der "Chef" war. Ob in der Reichskanzlei, am Obersalzberg, in der Wolfsschanze oder zuletzt im Führerbunker, Rochus Misch war dabei und dies bis über das Ende hinaus. Misch floh als einer der letzten aus dem Führerbunker am Morgen des 2. Mai 1945, zwei Tage nach Hitlers Selbstmord.

Mischs Lebensbericht gipfelt zuvor in der tagebuchähnlichen Schilderung der letzten zwölf Tage im Führerbunker. Der Leser bekommt eine Stimmung vermittelt, die einem Gruselkabinett alle Ehre macht. Der Führerbunker wird zum Leichenschauhaus, schon bevor sich die ersten dort entschließen, ihrem Leben eigenhändig ein Ende zu setzen.

Misch betont die simplen Dinge seines Tuns und schildert überzogen detailliert diese "geschichtsunrelevanten" Banalitäten, wie seine Bewunderung der seinerzeit als hochmodern geltenden Siemens-Telefonanlage in der Reichskanzlei oder die empfangenen Glückwünsche und Geschenke zu seiner Hochzeit. Von Konzentrationslagern und der systematischen Vernichtung von Juden will er bis nach Kriegsende nicht gewusst haben. Der Leser schwankt daher zwischen Ungläubigkeit über die Naivität eines Mannes, den oftmals nur eine Wand trennte von den "geschichtsrelevanten" Beschlüssen während dieser Zeit, und Akzeptanz der Glaubhaftigkeit eines Mannes, der tatsächlich nur ein kleines Rädchen im großen Ganzen war, das zu funktionieren hatte. Rochus Misch funktionierte dabei perfekt und ohne jegliche Beanstandung. Seine wohl geschichtsträchtigste Tat war die entscheidende Mitwirkung am technischen Zustandekommen der Gespräche zwischen dem Kommandanten des Berliner Wachbataillons, Major Remer, Goebbels und Hitler nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, was eine Koordination der Folgeaktivitäten erst ermöglichte.

Dieses Aufeinandertreffen von "geschichtsrelevanten" und "geschichtsunrelevanten" Vorkommnissen veranlasst Ralph Giordano, der als Sohn einer Jüdin den Holocaust überlebt hat, im Vorwort zu einem nachdenklich stimmenden Vergleich: "Wie viele Gaskammertote konnte der Auschwitz-Birkenau-Kommandant Rudolf Höß an dem Tag verbuchen, als Hitler seinem Leibwächter und dessen Frau Gerda zur Vermählung gratulierte?... Und wie viele Leichen (wurden) in den Vernichtungslagern verbrannt, als sich sein Blick durch die offene Schlafzimmertür mit dem Eva Brauns traf?"

Nichtsdestotrotz dokumentiert dieses Buch ein Stück bedeutender Zeitgeschichte ob der gespenstischen Nähe Mischs zu Hitler auf eine sehr intime Art und Weise und hat daher seine vollste Daseinsberechtigung. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass das Buch aber auch Ungenauigkeiten und Verwirrungen bei einigen Angaben Mischs beinhaltet, so bei der Datierung des Freitods der Familie Goebbels. Als zusätzliches Material weist das Buch einen ausführlichen Teil mit weiterführenden Anmerkungen auf und Kurzbiographien von mehr als siebzig im Buch erwähnter Personen.

In der Beurteilung des Rochus Misch hat jeder Leser für sich selbst zu entscheiden, inwieweit er Misch in die Verantwortung nimmt und ihn für sein untätiges Verhalten verurteilt. Ohne Zweifel beinhaltet dieses Buch die subjektive Wahrheit von Rochus Misch, was wiederum jedem erlaubt, Rückschlüsse auf seine Person zu ziehen, indem man die geschichtlichen Fakten der dunkelsten Epoche Deutschlands eben dieser subjektiven Wahrheit gegenüberstellt.

Christoph Mahnel
18.08.2008

 
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Das Buch:

Rochus Misch: Der letzte Zeuge: Ich war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwächter

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München: Pendo Verlag 2008
280 S., € 19,90
ISBN: 978-3-86612-194-2

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