Biographie

Damals in Spiez

Es war die emotionale Stunde Null der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Formal gab es das zarte Pflänzlein seit gerade einmal fünf Jahren, doch erst die Leistung von elf Fußballern in der benachbarten Schweiz gab der kriegsgebeutelten Nation ihre Identität zurück. Im Vorfeld der fünften Fußball-Weltmeisterschaft im Jahre 1954 gab es mit den Ungarn um ihren Kapitän Ferenc Puskás einen glasklaren Favoriten, erst recht nachdem sie auch die Deutschen in der Vorrunde deutlich in ihre Schranken gewiesen hatten. Doch die Mannen von Sepp Herberger entwickelten im Laufe des Turniers einen Mannschaftsgeist, der sich am Ende sogar über die individuelle Klasse der Magyaren hinwegsetzen sollte. Der am 04. Juli 1954 über dem Berner Wankendorf-Stadion einsetzende Regen bereitete sprichwörtlich den Boden für die kampfstarken Deutschen, sechs Minuten vor Schluss sollte es schließlich Helmut Rahn vergönnt sein, mit seinem Tor Deutschland den ersten Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft zu sichern.

Die Geschichten rund um die 54er-Mannschaft sind in den vergangenen siebzig Jahren zuhauf rauf und runter erzählt worden. Einen besonderen Hype entfachte zum fünfzigjährigen Jubiläum Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern", zu dem auch noch einige der Heroen von damals persönlich erscheinen konnten. Doch mit dem Tode Horst Eckels vor rund zweieinhalb Jahren ist auch der letzte Spieler aus dem Finale von Bern verstorben. Geschichten über die Helden von Bern können fortan nicht mehr aus erster Hand zum Besten gegeben werden, sondern müssen, insofern nicht eh schon bekannt, aus Archiven hervorgeholt oder Zeitzeugen entlockt werden, die allerdings auch immer rarer gesät sind.

Tobias Escher hat nun zur siebzigsten Jährung des ersten deutschen WM-Titels ein Buch mit dem schlichten Titel "Die Weltmeister von Bern" herausgebracht. Suggeriert wird durch den Untertitel des Buchs, dass es sich hierbei um eine Biografie der Mannschaft handele. Doch ein erster Blick ins Buch zeigt, dass sich der renommierte Fußball-Journalist vor allem zwei Protagonisten aus der Final-Mannschaft gewidmet hat, dem Siegtorschützen Helmut Rahn und Ottmar Walter, dem Stoßstürmer und Bruder des legendären Kapitäns Fritz Walter. Die Lebensgeschichten des lebenslustigen Außenstürmers und des ewigen Bruders, der bis heute noch Rekordtorschütze des 1. FC Kaiserslautern ist, bilden den roten Faden, während im Zuge dieser beiden Biographien natürlich die Lebenswege vieler weiterer Protagonisten gestreift werden. Insbesondere im Strang um Ottmar Walter ist viel vom großen Bruder Fritz und Sepp Herberger, dem Pfalz-nahen Bundestrainer, die Rede.

Der Autor hat das vorliegende Buch inhaltlich gedrittelt: "Vor Spiez", "Der Geist von Spiez" und "Nach Spiez". Damit nimmt er einen schwerpunktmäßigen Bezug auf das Teamquartier der deutschen Nationalmannschaft in der Schweiz, das Hotel "Belvédère" in der Gemeinde Spiez am Thunersee. Dort entwickelten Herberger und seine Mannen den "Spirit", der sie als Mannschaft über sich hinauswachsen und das nicht für möglich Gehaltene erreichen ließ. Im ersten Kapitel ist natürlich für die in den Zwanzigerjahren geborenen Nationalspieler sehr viel von Entbehrungen die Rede und dem Glück, das sie den Krieg überleben ließ. "Der Geist von Spiez" liest sich wie ein Rausch, der in Rahns Geschoss aus dem Hintergrund kulminiert. Doch "Nach Spiez" zeigt allzu deutlich, dass der Keim des Niedergangs im Moment des größten Erfolgs bereits gesät ist.

"Die Weltmeister von Bern" ist eine sehr lesenswerte Lebenserzählung zweier Männer, die es zur größtmöglichen Popularität in der jungen Bundesrepublik gebracht hatten, diese aber nicht annähernd über ihr Karriereende hinaus erhalten konnten. Alkohol und Depressionen konnten sie zwar einigermaßen in den Griff bekommen, doch war die Fallhöhe aus dem Olymp eine Bürde, die sie auferlegt, aber nie gemeistert bekamen. Selbst für eingefleischte Fußballfans hält das vorliegende Buch viele Einblicke und Anekdoten bereit, die Tobias Escher mit Hingabe zu Tage gefördert hat. Sehr amüsant wird es auch durch die zeitgeschichtliche Grundierung mit der Nachkriegsgesellschaft. Kopfschüttelnd wird man die Passagen über den damaligen Stand der Sportwissenschaften lesen, wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass auch bei größter Hitze im Training oder Spiel auf die Flüssigkeitszufuhr zu verzichten war. So wird "Die Weltmeister von Bern" zu einem unterhaltsamen Porträt aus einer lange zurückliegenden Epoche.

Christoph Mahnel 
15.07.2024

 
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Das Buch:

Tobias Escher: Die Weltmeister von Bern. Biografie einer Jahrhundertmannschaft

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Hamburg: Rowohlt Verlag 2024 432 S., € 20,00 ISBN: 978-3-499-01442-0

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