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Jenseits von Pamuk: Die türkische Literatur bietet Überraschungen

Frankfurt/Main (dpa) - Istanbul und immer wieder Istanbul: Die türkische Literatur verdichtet sich in dieser Metropole regelrecht. Orhan Pamuk beschwört in seinen Romanen gerne die große multikulturelle Geschichte dieser Stadt. Auch viele andere türkische Autoren, die jetzt in großer Zahl zur Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengast Türkei dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt werden, lassen sich vom Mythos dieses zugleich auch mit vielen Klischees beladenen Orts faszinieren. Dabei können - jenseits von Pamuk - überraschende Entdeckungen gemacht werden. Auffällig ist, dass unter den jüngeren türkischen Literaten sehr viele Frauen sind.

Elif Shafak, die neben Pamuk zu den international prominentesten Autoren ihres Landes zählt, hat in ihrem neuen Roman «Der Bonbonpalast» ein Haus in Istanbul und dessen Bewohner zum Schauplatz ihrer Geschichten gewählt. Mit viel Fantasie verwebt sie darin Themen wie das urbane Großstadt-Leben und Religion bis hin zur Mystik. Allerdings wird man bei der polyglotten Diplomatentochter wie in ihrem 2007 erschienenen Bestseller «Der Bastard von Istanbul» den Eindruck nicht los, dass sie ihre literarische Begabung den in den USA so beliebten Kursen für «creative writing» verdankt. Sie fabuliert unterhaltsam und gekonnt - aber auch ein bisschen zu glatt und routiniert.

Ein Geschichtenerzähler ist auch Mario Levi. Ähnlich wie Pamuk blendet er in seinem Roman «Istanbul war ein Märchen» zurück in seine Kindheit, als in der traditionellen Viel-Völker-Stadt noch viele Juden, Armenier und Griechen lebten. Levi hat ein großes Panorama dieser Zeit entworfen mit viel skurrilen Charakteren, die er liebevoll beschreibt. Levi selbst ist türkischer Jude, dessen Vorfahren vor 500 Jahren ins Land kamen.

Einen Blick auf das moderne Istanbul wirft Perihan Magden, die mit ihrem Roman «Zwei Mädchen» in der Türkei einen Erfolg landete. In Istanbul treffen zwei junge Mädchen aufeinander, die aus den Konventionen der türkischen Gesellschaft ausbrechen wollen. Dies wird von Magden rasant erzählt. Aber es bleibt beim Lesen der Freundschaft der beiden Heranwachsenden ein leicht klebrig-kitschiger Nachgeschmack - als hätte die Autorin die Geschichte in etwas zu viel türkischen Honig getaucht.

Ganz schnörkellos kommt dagegen ein Klassiker daher: In seinem bereits 1940 erschienenen Buch «Der Dämon in uns» schildert Sabahattin Ali das Scheitern der Beziehung eines jungen Paares in Istanbul in der damals ebenfalls noch recht jungen türkischen Republik. Ali hat ein sehr einfühlsames Buch über diese Jahre des Umbruchs geschrieben. Der Autor, der in Deutschland studierte und in der Türkei Deutschlehrer war, gilt als Wegbereiter der modernen türkischen Literatur. Erschienen ist der Band in der von der Robert- Bosch-Stiftung initiierten «Türkischen Bibliothek» im Zürcher Unionsverlag, der sich damit seit 2005 um die Verbreitung der türkischen Literatur verdient macht.

Wie bei Perihan Magden stehen im Zentrum des Istanbul-Romans «Am Rand» von Sebnem Isigüzel ebenfalls zwei Frauen. Leyla, die eine, ist in Russland aufgewachsen und ist als Absolvent der Botwinnik-Schule ein kleines Schachgenie. Zurück in Istanbul landet sie in der Gosse und wird zur «Müllkönigin». Yildiz, die andere Hauptfigur, ist Musikwissenschaftlerin. Es ist eine wild komponierte und komplizierte Geschichte, bei der es viel um fehlende Zuwendung und Sehnsucht nach Geborgenheit geht. Und trotz einiger Brüche funktioniert dies dank des außergewöhnlichen Erzähltalents der Autorin, die zur echten Entdeckung wird. Isigüzel experimentiert zum Schluss mit einem ungewöhnlichen Kunstgriff, indem sie im Anhang als Autorin Gespräche mit ihren beiden Hauptfiguren führt.

Eine andere Form der Annäherung an Istanbul versucht Zülfü Livaneli, der in der Türkei auch ein bekannter Sänger und Filmemacher ist, in seinem Roman «Glückseligkeit». Darin kreuzt sich der Weg eines anatolischen Mädchens, das nach der Schändung in der Familie vom Cousin getötet werden soll, mit dem Leben eines liberalen Istanbuler Universitätsprofessors, der in der Midlife-Krise steckt. Dieser Zusammenprall der beiden ungleichen Kulturen gelingt nur teilweise. Livaneli beschreibt dies auch ohne große literarische Raffinessen zwar spannend, aber auch etwas konstruiert. Die letztliche Emanzipation des Mädchens wirkt nicht richtig überzeugend.

Weit weg von Istanbul, irgendwo im islamisch-fundamentalistischen Niemandsland, spielt der neue Roman von Murathan Mungan. Der Bestseller-Autor ist in der Türkei auch wegen seiner offenen Homosexualität bekannt. Mungan erzählt in «Tschador» die Geschichte eines jungen Manns, der aus dem Exil in seine Heimat zurückkehrt. Dort ist in der Zwischenzeit eine neue Regierung an die Macht gekommen. Alle Frauen sind verschleiert und abweisend, der Heimkehrer findet seine Mutter nicht wieder. Schließlich greift der verzweifelte Heimkehrer selbst zur Burka, um Zugang zu finden. Mit seiner plastisch-poetischen Sprache gelingt Mungan in diesem schmalen Band Erstaunliches. Welche Widersprüche und kulturelle Entfremdung ein System erzeugt, das auf Tschador oder Burka baut, wird von ihm in dieser Parabel meisterhaft sprachlich umgesetzt.

Elif Shafak
Der Bonbonpalast
Eichborn Verlag Frankfurt/Main
480 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-8218-5806-7

Mario Levi
Istanbul war ein Märchen
Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main
845 Seiten, 24,80 Euro
ISBN 978-3-518-41997-7

Perihan Magden
Zwei Mädchen
Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main
324 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 978-4-518-46005-4

Sabahattin Ali
Der Dämon in uns
Unionsverlag Zürich
324 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 978-3-293-10007-7

Sebnem Isigüzel
Am Rand
Berlin Verlag
432 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-8270-0805-3

Zülfü Livaneli
Glückseligkeit
Verlag Klett-Cotta Stuttgart
313 Seiten, 22,90 Euro
ISBN 978-3-608-93792-3

Murathan Mungan
Tschador
Blumenbar Verlag München
127 Seiten, 15,90 Euro
ISBN 978-3-936738-41-4

 
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