Buch des Monats Mai 2016

Neues vom weltbesten Fabulierer

Anno 1970 lebt der 14-jährige Juan Diego zusammen mit seiner jüngeren Schwester Lupe auf einer mexikanischen Müllkippe. Beiden sind besondere Fähigkeiten beschieden: Während sich der Junge eigenständig Lesen und Schreiben sowie Fremdsprachen beibringt, kann das Mädchen Gedanken lesen und in die Zukunft schauen. Doch leider kann niemand Lupe, die unter einem Sprachfehler leidet, verstehen, außer Juan Diego, der dementsprechend als ihr Dolmetscher zur Umwelt fungieren muss. Ihr weiterer Weg führt die beiden Kinder, die durch einen tragischen Unfall zu Waisen werden, in ein Jesuitenheim und wenig später in einen Zirkus.

Vierzig Jahre später reist Juan Diego, der sich in der Zwischenzeit als Schriftsteller einen Namen gemacht hat und gerade von seiner Professur zurückgezogen hat, um seinen Fokus als Privatier gänzlich aufs Schreiben richten zu können, in einem Flugzeug von New York auf die Philippinen. Auf diesem Transatlantikflug bewegt sich Juan Diego beständig zwischen Wachsein und intensiven Träumen, in denen er sich mit den zentralen Stationen und Menschen in seinem Leben auseinandersetzt. Befeuert werden diese Träume durch Juan Diegos Neigung, sich Tabletten-Cocktails aus blutdrucksenkenden Mitteln und Viagra zu genehmigen. Juan Diego schwebt somit kontinuierlich zwischen allen Ebenen, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Start und Ziel.

Es ist wieder angerichtet! Mit "Straße der Wunder" hat der amerikanische Bestseller-Autor John Irving seinen neuesten Roman veröffentlicht. Für die deutsche Übersetzung von "Avenue of Mysteries", das im englischsprachigen Original gut viereinhalb Monate zuvor erschienen war, zeichnet gemäß bewährter Tradition der Zürcher Diogenes Verlag verantwortlich und liefert ein knapp 800 Seiten starkes Buch ab, das alleine von seiner Haptik her einen Leckerbissen darstellt. Beim mittlerweile 74-jährigen Autor stellt sich der breiten Fangemeinde mit jedem Buch die besorgniserregende Frage, ob dies denn das letzte Werk aus der Feder des großartigen Geschichtenerzählers gewesen sein könnte. Schließlich gehört Irving nicht zu den Fließbandarbeitern, die ihrem Verleger neue Bücher im Jahrestakt versprechen und liefern. So kennt das wunderbare Opus John Irvings gerade einmal vierzehn Romane, die innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts geschrieben wurden. Darunter befinden sich allerdings fast ausnahmslos Hochkaräter, die von vielen Menschen oft und gerne als ihre Lieblingsbücher zitiert werden. Man denke dabei nur an "Garp und wie er die Welt sah", "Zirkuskind", "Owen Meany" oder "Gottes Werk und Teufels Beitrag".

Doch genug des Lobs für Irvings Meriten aus der Vergangenheit. Richtet man den Blick auf die Gegenwart und das vorliegende Buch, so manifestiert sich beim Leser rasch der Eindruck, dass Irving hier wieder einmal auf altbewährte und erfolgreiche Elemente aus Vorgängerromanen zurückgegriffen hat. Über einen Zeitraum von vierzig Jahren wird die Vita des Protagonisten hin- und hergewälzt. Wenig überraschend handelt es sich bei Juan Diego auch wieder einmal um einen Schriftsteller, der sich in seinem Leben mit Verlust und Gewalt sowie unerwarteten Ereignissen arrangieren musste. Ebenso trifft man auf bizarre sexuelle Konstellationen, eine altbekannte und wohl bekömmliche Zutat in Irving-Romanen. Wie schon in "Owen Meany" hat der Autor seine Religionskritik recht prominent platziert, das Thema Aids kommt, nachdem es bereits in Irvings letztem Roman "In einer Person" eine zentrale Rolle eingenommen hatte, vor sowie ein Zirkus, was beim Leser gedanklich natürlich den Bogen zurück in die neunziger Jahre und "Zirkuskind" schlagen lässt. Wer Irving ob dieser Wiederholungen Vorwürfe machen möchte, möge bitte vorsichtig argumentieren. Mit einem geschickten Kniff lässt der Autor nämlich sein Alter Ego im vorliegenden Roman eben ob dessen Hang zu Wiederholungen schier verzweifeln.

In "Straße der Wunder" zeigt sich die wahre Größe des Autors dadurch, dass er es wie kein Zweiter versteht, aus scheinbar verbrauchten Zutaten und ausgetretenen Pfaden ein Werk zu schaffen, das auf den Leser wie eine neuartige, noch nie dagewesen Erzählung wirkt. So offenbart sich das vorliegende Buch dem begeisterten Leser, der sich jedoch Sorgen zu machen beginnt, dass "Straße der Wunder" mit seinen Querverweisen in die großen Erfolgsromane Irvings eventuell einen Schlussstrich bilden könnte unter das Gesamtwerk des Mannes mit der blühenden Fantasie, deren Auswüchse er derart überbordend in seine Romane einfließen lässt, dass diese überquellen wie der Kofferraum eines Mittelklassewagens, wenn die vielköpfige Familie eine mehrwöchige Urlaubsreise antritt. Das vorliegende Buch ist dementsprechend wieder einmal ein umfänglicher Quell der Freude, für das man sich bei Irving vor allem deswegen bedanken mag, dass er niemals Anstalten macht, seine Ausführungen kurz und knapp zu halten. Für Irving-Fans ist "Straße der Wunder" ein neuerliches Fest, für Novizen womöglich der Auftakt zu einer wunderbaren Beziehung.

Christoph Mahnel
25.04.2016

 
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Das Buch:

John Irving: Straße der Wunder

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Zürich: Diogenes Verlag 2016
784 S., € 26,00
ISBN: 978-3-257-06966-2

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