Buch des Monats - M?rz 2012

Egans Meisterwerk: Buddenbrooks für die Twitter-Generation

13 muntere Geschichten mit wechselnder Besetzung, die zu einem gro?en Roman zusammenwachsen: Jennifer Egans "Der gr??ere Teil der Welt" ist ein h?chst intelligenter, oft finsterer Blick auf das Aufwachsen und ?lterwerden im Computer-Zeitalter.

Sasha, Kleptomanin, ist vom Date mit dem j?ngeren Alex entt?uscht und stiehlt auf der Damentoilette eine Geldb?rse. Bei der dem?tigenden Konfrontation mit dem Opfer schrammt sie haarscharf an der Katastrophe vorbei. Zuhause, zwischen Sex und Wannenbad, klaut sie Alex aus dessen Brieftasche einen Zettel mit der Widmung "Ich glaube an dich".

Das alles breitet die 35-j?hrige New Yorkerin beim Psychiater Coz aus, mit dem, da ist Sasha sicher, die Bek?mpfung der Sucht gut enden wird. Wirklich? Was erst mal z?hlt, ist der Platz auf der Couch, von der aus sie ihrem Seelenklempner das kostbarste aller G?ter klauen kann: "Diese Minuten von Coz' Zeit, eine, dann noch eine und immer wieder noch eine."

So endet das brillant gestaltete Er?ffnungskapitel von Jennifer Egans "Der gr??ere Teil der Welt". Zw?lf weitere mit wechselnder Personengalerie folgen, in denen Sasha hin und wieder auftaucht, mal am Rande, mal mehr im Zentrum. Als begehrte College-Studentin, als heruntergekommene, vereinsamte Backpackerin in Neapel, am Ende als offenbar irgendwie zur Ruhe gekommene Arzt-Gattin in einer W?stenstadt.

Hier stellt Sashas Tochter Alison die Mutter, den Vater, ihren psychisch angeknacksten Bruder und die Probleme miteinander in den mit Pfeilen best?ckten K?sten einer Powerpoint-Pr?sentation vor. "Die besten Pausen der Rockgeschichte" steht dr?ber, denn der Bruder Lincoln interessiert sich f?r komplette Stille als Teil von Songs. Wie in "Foxy Lady" von Hendrix und "Bernadette" von den Temptations.

Meisterhaft erz?hlt die 49-j?hrige Egan hier aus der Sicht einer 12-J?hrigen. Sie f?llt elegant die auf Meetings aller Art zu Tode gerittene Form der Powerpoint-Pr?sentation ?ber 75 Seiten mit Leben. Ihren ersten eigenen Computer bekam sie 1984 vom Apple-Gr?nder Steve Jobs nach Hause gebracht. Den Heiratswunsch des mit dem ersten Macintosh gerade ber?hmtgewordenen Mannes aus San Francisco wies Egan ab. Sie f?hlte sich mit 22 zu jung.

"Einen Heiratsantrag von Roger Daltrey h?tte ich auf der Stelle angenommen", erz?hlt sie jetzt dem "Guardian" ?ber ihre "Besessenheit" von den Who, f?r die Daltrey sang. Rockmusik ist ein Bindemittel in diesem Buch, das sich teils wie eine Sammlung lose zusammenh?ngender Geschichten und dann wie ein raffiniert geschnittener Roman voller ?berraschender Verbindungen zwischen den Figuren liest.

Die meisten Figuren sind im Musikgesch?ft aktiv. Sasha als Assistentin des Plattenproduzenten Bennie. Der wiederum als Bassist der Flaming Dildos in den 80ern, am Ende ein Opfer der Digitalisierung im Musikgesch?ft. Bennie will es noch mal wissen und treibt Scotty, den total abgetakelten Ex-Gitarristen der Flaming Dildos, zum Comeback-Versuch.

Egan springt ?ber vierzig Jahre mal vor, dann wieder zur?ck und siedelt das Finale in der Zukunft an. Hier k?nnen drei Monate alte Babys auf "Smartpads" Songs aufrufen. Scotty will im letzten Augenblick ums Verrecken nicht auf die B?hne f?r das Comeback, Bennie redet auf ihn ein: "Die Zeit will einen fertigmachen, oder? Wirst du dich etwa so rumsto?en lassen?" Scotty: "Die Zeit hat gewonnen."

Egan erz?hlt temporeich, vor Ideen sprudelnd, k?hl beobachtend, aber auch voll Mitgef?hl f?r ihre oft strandenden Figuren. Den Pulitzerpreis 2011 hat sie auch bekommen, weil die Jury begeistert war vom scharfem Blick der Autorin auf kulturelle und andere Str?me vom Ende der Hippie-?ra bis zum bevorstehenden Ende der Twitter-?ra.

Die US-Kritik war begeistert von Egans Souver?nit?t bei der Formgebung ohne k?nstliche "postmoderne" Tricks: Die 13 Kapitel k?nnen jeweils f?r sich allein stehen, entfalten aber durch die oft verbl?ffenden Querverbindungen zwischen den Figuren eine epische Breite, die die "New York Review of Books" an Thomas Manns "Buddenbrooks" erinnert.

Inspiriert habe sie das 100 Jahre alte "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust und die vor f?nf Jahren eingestellte TV-Serie "Sopranos", erz?hlt Egan in Interviews. Die Zeit trennt und bindet die auf wundersame Weise verwobene Personengalerie ?ber drei Generationen. Wie hei?t es gegen Ende in Anlehnung an die SMS-Verk?rzungen unserer Tage vieldeutig und mit Fragezeichen: "Wo KindR sind, gibz zukunft, odR?"

Thomas Borchert, dpa 
05.03.2012 

 
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Das Buch:

Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt. Aus dem Englischen von Heide Zeltmann

Frankfurt am Main: Schöffling Verlag 2012
392 S., € 22,95
ISBN: 978-3-89561-224-4

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