Buch des Monats - Oktober 2011

Angelika Klüssendorfs Buch über Jugend in der DDR: "Das Mädchen"

Der bitterböse Roman "Das Mädchen" zeigt ein Milieu, das es in der DDR eigentlich gar nicht geben durfte: die Unterschicht. Das Buch ist unter den sechs Finalisten zum Deutschen Buchpreis 2011.

Das Mädchen wächst in den 1970er Jahren in der DDR auf. Es ist eine enge, miefige Welt, in der man Sendungen wie "Willi Schwabes Rumpelkammer" schaut und Kleidung aus der Kunstfaser Dederon trägt. Trauriger jedoch sind die desolaten Familienverhältnisse. Die Mutter ist haltlos und gewalttätig, der Vater häufig abwesend, ein Säufer. Das Mädchen wird oft ungerecht bestraft, Liebe bekommt es keine. Doch es weiß sich zu helfen. Mit List und Tücke schlägt es sich durch die feindliche Umwelt.

Nicht immer respektiert es dabei die zehn Gebote, auch nicht die der sozialistischen Moral. Es lügt und fantasiert häufig, manchmal stiehlt es. Eines Tages wird es in ein Heim eingewiesen. Dort erfährt es plötzlich so etwas wie Bewunderung und Respekt. Das schönste Mädchen wird zur Freundin.

Angelika Klüssendorf wuchs in der DDR auf und siedelte 1985 in die Bundesrepublik über. In "Das Mädchen" beschreibt sie ein Milieu, das es so in der DDR eigentlich gar nicht geben durfte, das konsequent verschwiegen wurde. Heute würde man von "Prekariat", von "bildungsfernen Schichten" sprechen, damals im Westen waren es "Asoziale". Klüssendorf ist mit ihrem Buch unter den sechs Finalisten zum Deutschen Buchpreis 2011.

Sie schreibt über ein Milieu, das von systematischer Verwahrlosung und Gewalt gekennzeichnet ist. Die Eltern des Mädchens sind mit ihrer Erziehungsaufgabe hoffnungslos überfordert. Der Vater, ein Westentaschen-Casanova, schlägt die Mutter, diese reicht die Gewalt an die Kinder weiter. Das Mädchen wiederum quält gerne einmal den hilflosen Bruder. Es sind keine schönen Szenen, die Klüssendorf da so lakonisch schildert, manchmal sind sie nah am Sadismus.

Das eigentliche Drama des Mädchens besteht darin, dass es keinerlei soziale Normen und Prinzipien vermittelt bekommt: "Es gibt keine erkennbaren Gesetze für ihr Zusammenleben, keine gültige Gerechtigkeit; ein Vorfall, der ihr morgens eine Tracht Prügel einbringt, kann abends nur ein müdes Lächeln bei ihm hervorrufen."

Doch das Mädchen geht in all dem Elend nicht unter. Es entwickelt Strategien der Selbstbehauptung und auch immer wieder kleine, kostbare Fluchten. Wird sie im Keller eingesperrt, findet sie Trost in der Lektüre von "Brehms Tierleben". Bei einem Urlaub an der Ostsee erlebt sie fast heitere, unschuldige Momente beim Muschelsuchen am Strand. Illusion eines ganz normalen Kinderlebens.

Mit sanften Strichen gelingt Angelika Klüssendorf in "Das Mädchen" eine bitterböse Sozialstudie. Der ganz im Präsens gehaltene Roman geht gerade in seiner einfachen, klaren Sprache und seiner scheinbaren Beiläufigkeit unter die Haut. Es ist das überzeugende Porträt einer Lebenskünstlerin, die sich trotz widriger Umstände nicht unterkriegen lässt. Weder verhält sich das Mädchen moralisch einwandfrei, noch wird man es je liebenswürdig finden. Doch kann der Leser diesem rauen, starken Charakter seine Bewunderung nicht versagen.

Sibylle Peine, dpa
04.10.2011

 
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Das Buch:

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen

Köln: Kiepenheuer und Witsch 2011
192 S., € 18,99
ISBN: 978-3-462-04284-9

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