Buch des Monats Juli 2024
Gewitterwolken über Saint-Denis
Brice Kerquelin war mit seinen Visionen und Ideen einst zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Als Google und Co. im Silicon Valley groß wurden, war er zusammen mit einigen Freunden mittendrin und maßgeblich am rasanten Wachstum dieser heutigen Giganten beteiligt. Doch hegt und pflegt Brice in seiner französischen Heimat ein ganz besonderes Hobby: Er analysiert historische Schlachten und spielt diese bei entsprechenden Anlässen in opulenter Staffage detailgetreu nach. Als die Befreiungsschlacht von Sarlat von 1370 an Ort und Stelle aufgeführt wird, nimmt Kerquelin die Hauptrolle ein. Doch von einer Sekunde auf die andere gerät das Drehbuch aus den Fugen: Kerquelin steigt unplanmäßig vom Pferd, wird im Getümmel getroffen und stürzt blutüberströmt zusammen. Aus dem benachbarten Saint-Denis als Zuschauer angereist leisten Bruno, der Polizist, und Fabiola, die Ärztin, sogleich erste Hilfe, die aber angesichts des hohen Blutverlusts vergeblich zu sein schien.
Nachdem Kerquelin in allerhöchster Lebensgefahr vom Unfallort abtransportiert wurde, beginnt Bruno geistesgegenwärtig mit der Ermittlungsarbeit. Ihm scheint hier unzweifelhaft kein Unfall vorzuliegen, sondern vielmehr ein Anschlag auf das Leben dieses bedeutenden Mannes. Die französischen Geheimdienste sind sogleich mit an Bord und übertragen Bruno eine wichtige Aufgabe. Kerquelin hatte nämlich ein Wiedersehen mit alten Freunden aus dem Silicon Valley im luxuriösen Château de Rouffilac geplant. Nach diesem vermeintlichen Anschlag ist klar, dass diese Gruppe, die sich just im Anflug befindet, in Gefahr ist und durch einen umsichtigen Koordinator geschützt werden muss. Bruno nimmt sich derer an und schlüpft darüber hinaus in die ihm auf den Leib geschneiderten Rollen als Fremdenführer und Verköstiger. Doch die Unbekümmertheit von Kerquelins Freunden und Familie angesichts dessen kritischer Situation machen Bruno nachdenklich und skeptisch, ob er hier nicht einer Inszenierung aufsitzt.
"Im Château" lautet der Titel des mittlerweile sechzehnten Falles für Bruno, Chef de Police. Der Tausendsassa von Saint-Denis löst diese, seine eigentlichen Kompetenzen als "Dorfpolizist" oft weit übersteigenden Fälle stets mit Bravour, Mut und ganz viel Charme. Sein Schöpfer Martin Walker ließ ihn im Jahre 2008 erstmals von der Leine. Seitdem hat in konsequenter Manier alljährlich im Frühjahr ein neuer Roman das Licht der Welt erblickt. Die im Zürcher Diogenes Verlag erscheinenden und elegant daherkommenden Bücher bilden einen Fixpunkt im alljährlichen Bücherkalender. Hält man den neuesten "Bruno" in der Hand, weiß man sogleich, dass der Sommer vor der Tür steht, die Natur aufblüht und man sich an länger werdenden Abenden gerne auch draußen an der Lektüre des neuesten "Bruno" laben kann.
Wer bereits in den Genuss der bisherigen Bruno-Romane gekommen ist, der wird sich bei dem vorliegenden Werk schon ein wenig ob der Geschehnisse wundern, die ziemlich untypisch für die Bedächtigkeit und Atmosphäre sind, die ansonsten in Saint-Denis vorherrschen. So viel Blut wie im ersten Kapitel ist garantiert noch in keinem der fünfzehn Vorgänger geflossen, aber auch die Atmosphäre in Brunos "Familie" ist getrübt, gar angespannt. Da sich Bruno von der Tochter Kerquelins allzu offensichtlich umgarnen lässt, was ihm scheinbar auch noch zu gefallen scheint, sind einige seiner Freunde äußerst verstimmt. Unausgesprochene Hoffnungen, wie sich die Dinge in Saint-Denis doch bitteschön entwickeln sollten, brechen urplötzlich hervor. Allerdings ist Bruno derart als Personenschützer eingespannt, dass diese Gewitterwolken noch nicht aus dem Weg geräumt werden können.
Der Schreibstil von Martin Walker lässt "Im Château" bereits nach wenigen Seiten zu einem Erlebnis werden. Neben den bekannten und geschätzten Komponenten wie der wunderbaren Urlaubslandschaft des Périgord, Brunos Beweis, dass Beruf und Leben sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, und den lukullischen Genüssen besticht der vorliegende Roman durch einen stringenten Aufbau und gut eingeführte Charaktere, die einen als Leser sofort Gefallen finden lassen. Doch leider überzieht Walker im letzten Viertel des Buches massiv und völlig überstürzt mutiert "Im Château" zu einer ganz großen globalen Nummer, die der Fall eigentlich nicht nötig gehabt hätte. Eventuell hätte der Autor ein paar Seiten mehr benötigt, um die letztliche Auflösung behutsam entwickeln zu können. Doch so fühlt sich der Leser leider am Ende ein wenig überfahren und schüttelt verdutzt den Kopf, wie diese tolle Geschichte so hat enden können.
Christoph Mahnel
01.07.2024