Buch des Monats März 2016

Exilroman einer Exilantin

Die zehnjährige Kully und ihre Eltern sind aus Nazi-Deutschland geflüchtet, da ihr Vater als antifaschistischer Schriftsteller in seiner Heimat keine Bücher mehr veröffentlichen darf. Seitdem sie Deutschland verlassen haben, reisen sie quer durch Europa von Paris bis Warschau, von Nizza bis Amsterdam. Ohne Pass sind sie unerwünscht, wo immer sie hinkommen, und können nie länger als ein paar Wochen oder höchstens ein paar Monate bleiben. Die kleine Familie lebt permanent von der Hand in den Mund und hat das Gefühl der Verbundenheit zu einem Ort oder einem Land völlig verloren.

Am wohlsten fühlt sich Kully, wenn sie im Zug von einem Ort zum nächsten sitzt. Doch das positive Gefühl hält nie lange an. Spätestens, wenn die nächste Hotelrechnung fällig wird, müssen sich Mutter und Tochter wieder eine Ausrede einfallen lassen, warum sie die Rechnung noch nicht bezahlen können. Der Vater lässt nämlich seine Frau und seine Tochter meist in Hotels zurück, um alleine weiter durch Europa zu reisen, immer auf der Suche nach einem Verleger, der ihm einen Vorschuss für seinen nächsten Roman gibt. Die besten Freunde der zehnjährigen Kully sind nicht etwa Gleichaltrige, sondern hauptsächlich das Hotelpersonal, wobei auch diese Bekanntschaften nie von langer Dauer sind, da die kleine Familie schon bald wieder weiterreisen muss.

Als ein Angebot aus den USA lockt, treten Kully und ihr Vater die Schiffsreise über den Atlantik an – allerdings ohne die schwangere Mutter, die in Rotterdam das Schiff verpasst hat. Doch auch das Land der unendlichen Möglichkeiten hält für den Schriftsteller aus Deutschland nicht das bereit, was er sich erhofft hat, so dass die Familie schließlich wieder in Europa, genauer gesagt in Amsterdam, landet.

Irmgard Keun (1905-1982) weiß, wovon sie schreibt, denn sie selbst flieht 1936 ebenfalls aus Nazi-Deutschland, als ihre Bücher auf dem Index landen und ihre Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer abgelehnt wird. Sie flüchtet u. a. nach Ostende, wo sie auf andere berühmte Exilanten der Zeit trifft: Heinrich Mann, Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch und Joseph Roth. Nicht nur die weltberühmte Romanze mit Letzterem nimmt in dem belgischen Seebad ihren Anfang, sondern auch ihr Roman "Kind aller Länder", der 1938 in einem niederländischen Verlag erstmals erschien. Für diesen Exilroman brauchte Keun nicht viel Phantasie, denn ihr waren die Situation und das Gefühl der Heimatlosigkeit bestens bekannt. In die Figur des Vaters baute sie Züge ihres Geliebten, Joseph Roth, ein, der ebenfalls Alkoholiker war, sich ständig in finanziellen Nöten befand, aber dennoch immer wieder Geld verschenkte, wenn er einmal welches besaß.

Das Erfrischende, das Keuns Roman von anderen Exilromanen dieser Zeit unterscheidet, ist ihre Sprache. Ich-Erzählerin von "Kind aller Länder" ist nämlich die zehnjährige Kully, die aufgrund ihres zarten Alters eine herrlich naive und doch so lebenskluge Weltanschauung vermittelt, die ohne Klischees und abgedroschene Floskeln auskommt. So hat sie z. B. eine ganz einfach Erklärung für ihre momentane Situation: "[...] wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen." Zeitloser und treffender kann man es nicht formulieren.

Für die Lesung der ungekürzten Hörbuchfassung auf vier CDs mit einer Spiellänge von insgesamt fünf Stunden wurde die Schauspielerin und vielbeschäftigte Hörbuchsprecherin Jodie Ahlborn engagiert, die mit ihrer jungen Stimme die perfekte Besetzung für Kully ist. Am Ende der letzten CD wartet noch ein besonderes Extra auf den Hörer. In einem 25-minütigen Interview kommt der Autor, Journalist und Literaturkritiker Volker Weidermann zu Wort, der vor wenigen Jahren den Roman "Ostende, 1936. Sommer der Freundschaft" geschrieben hat, in dem er eine Geschichte um die Exilanten Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Stefan Zweig und Irmgard Keun spinnt. Bei den Recherchen zu seinem Roman hat er sich eingehend mit Irmgard Keun, ihrer Lebensgeschichte und ihrem Werk auseinander gesetzt und kann so Einblicke in die Hintergründe von "Kind aller Länder" liefern. Weiteres Bonus-Material liefert das Booklet mit einem Auszug aus Weidermanns "Das Buch der verbrannten Bücher". Rundum ein gelungenes Literatur-Hörbuch eines außergewöhnlichen Exilromans.

Sabine Mahnel 
07.03.2016

 
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Das Buch:

Irmgard Keun: Kind aller Länder

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Sprecherin: Jodie Ahlborn Berlin: Der Audio Verlag 2016 Spielzeit: 299 Min., € 19,99 ISBN: 978-3-86231-669-4

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